Das Setting Arzt - Patient

Thomas Boyer, CEO der Groupe Mutuel, «plädiert für die Schaffung einer Task-Force, in der alle wichtigen Akteure vertreten wären: Spitäler, Ärzteschaft, die Pharmaindustrie, der Bund, die Kantone und die Versicherer.» (NZZ 20.3.2024) Die Patienten sieht er nicht als wichtige Akteure des Gesundheitswesens. Ein Stück weit hat er vielleicht sogar recht. Der Arzt sagt dem Patienten: Sie müssen operiert werden. Der Patient schluckt leer – und fügt sich. Über ihn wird verfügt. Aber das ist keineswegs zwingend. Hier zunächst eine kleine Auslegeordnung.

Patient
Der Patient befindet sich unter einem mehr oder weniger grossen Leidensdruck. Der Arzt ist für ihn Autorität beziehungsweise Experte. Vom Arzt beziehungsweise von der angeordneten Therapie verspricht er sich Heilung. Grundsätzlich hat er aufgrund von Presseberichten über die Fortschritte der Medizin oder aufgrund eigener (Google-) Recherchen eine optimistische Haltung in Bezug auf angeordnete Massnahmen.

Arzt
Der Arzt verfügt aufgrund eines breiten Wissens entsprechend seinem Fachgebiet über ein (durchaus begrenztes) Repertoire an Standard-Antworten auf eine begrenzte Anzahl an Diagnosen. Er steht unter einem gewissen Druck, Symptome vollständig zu erfassen und mit ausreichenden Therapien zu beantworten. Diese sind jeweils mehr oder weniger Ermessenssache. Zur Sicherheit ordnet er eher zu viel als zu wenig an. Die Anwendung von Standard-Antworten hat zur Folge, dass der Arzt zu wenig individualisiert (z.B. Anordnung einer Therapie oder eines Eingriffs trotz hohem Alter).

Situation
Die optimistische Disposition des Patienten in Bezug auf Therapie und das Standard-Therapie-Wissen sowie das Sicherheitsbedürfnis des Arztes führen dazu, dass der Vorschlag / die Anordnung des Arztes vom Patienten schnell akzeptiert wird. Selten oder nie werden erörtert und vom Patienten reflektiert:
• Erfolgsaussichten (der Patient tendiert dazu, von 100%, d.h. völliger Heilung, auszugehen).
• Entwicklung des Zustands, wenn Vorschlag / Anordnung nicht ausgeführt wird (Verzicht z.B. auf einen operativen Eingriff).
• Nebenwirkungen, mögliche Spätfolgen.
• Mögliche Interaktion der angeordneten Therapie mit allfälligen anderen Symptomen oder Therapien.
• Häufigkeit der Therapie / des Eingriffs mit Angaben zu geografischer und soziodemografischer Verteilung.
Mit anderen Worten: weil in der Entscheidungsfindung für eine Therapie kaum eine Reflexion unter Einbezug des Patienten stattfindet, wird gewissermassen nicht hinterfragt eine (allenfalls teure) Therapie durchgeführt, auf die u.U. auch hätte verzichtet werden können.

Folgerung
Die Urteilsbildung und der Entscheidungsprozess v.a. für den Patienten ist bewusster zu gestalten. Diesem ist mehr Spielraum zu garantieren. Insbesondere sollte der Patient damit konfrontiert werden, dass eine Therapie (ein Eingriff) sehr oft kein Prozess ist, der mit der völligen Gesundung endet. Der Patient muss die Schwere des Eingriffs (der Therapie) und dessen Risiken an der eigenen Situation (z.B. Alter, andere Erkrankungen) messen und abwägen können. Es ist nicht plausibel, dass derselbe Patient, der vielleicht einige Jahre später lebensverlängernde Massnahmen ablehnt, einige Jahre vorher fordert, dass der Arzt sämtliche Register zieht. Beziehungsweise: dieses Verhalten ist nur dann plausibel, wenn der Patient in Bezug auf Heilungswahrscheinlichkeit im Unklaren gelassen wird und sich falsche Hoffnungen macht.

Vorschlag: Dokumentation
Den Vorschlag, ab einer gewissen Kostenschwelle zwingend eine Zweitmeinung einzuholen, unterlasse ich hier aus verschiedenen Gründen. Viel bescheidener wäre ein Ansatz obligatorischer Information / Dokumentation. Konkret: wenn der behandelnde Arzt eine Hüftgelenkoperation vorschlägt, darf eine Überweisung / Anmeldung nicht in derselben Sprechstunde beschlossen werden. Stattdessen übergibt der Arzt dem Patienten eine kleine Dokumentation, in welcher die fünf oben erwähnten Punkte behandelt werden (Verlauf, Therapiedauer, Vorteile und Risiken, statistische Darstellung der Erfolgschancen, Fallbeispiele für unproblematischen und problematischen Verlauf sowie eine Evaluation der Kurz- und Langzeitfolgen einer Stichprobe entsprechender Eingriffe allenfalls mit persönlichen Berichten von Betroffenen). In der Dokumentation wird mindestens ein Kontakt angegeben, der weitere Informationen geben kann (z.B. auch einschlägige Selbsthilfegruppen).

Woher können solche Dokumentationen stammen? Sie wären von den fachärztlichen Gesellschaften in Zusammenarbeit mit Spitälern / Universitäten und Therapeuten (z.B. Physiotherapeuten) auszuarbeiten. Für den Start eines solchen Konzepts und das Erfahrungsammeln würde ein halbes Dutzend Dokumentationen zunächst reichen (Pilot). Dieses Konzept könnte sogar lokal von einer Ärztegruppe initiiert werden. Es bedarf keiner rechtlichen-politischen Entscheidungen. Nach und nach wäre dieser Bestand an Dokumentationen auszubauen und deren Verwendung auch in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen zu implementieren. Mit der unterschriftlichen Zustimmung zu einer Massnahme bestätigt der Patient, die Dokumentation erhalten zu haben. Die Kostengutsprache durch die Krankenkasse erfolgt erst, wenn damit sichergestellt ist, dass der Patient ausreichend informiert worden ist.

Ziel muss ein «Empowerment» des Patienten sein. Wenn sich eine Kultur etabliert, die den Patienten wirklich in die Entscheidung einbezieht, wenn sich tatsächlich «der» mündige Patient entwickelt und dieser die Möglichkeit ernsthaft erwägen kann, z.B. nicht zu operieren, sondern es allenfalls mit anderen therapeutischen Massnahmen zu versuchen oder mit gewissen Beschwerden zu leben, wird die Einbahnstrasse Diagnose > Therapie von ihrer zwingenden Konsequenz befreit – und das System von Kosten entlastet.

Beispiele
Es gibt sehr viele Situationen, in denen Massnahmen ohne das beschriebene Vorgehen umgehend eingeleitet werden müssen. Es bleiben aber sehr viele zum Beispiel sogenannte Wahleingriffe, die im beschriebenen Sinn zu reflektieren sind. Hier einige Beispiele, teils selbst erlebt, teils aus meinem näheren Umfeld:

  • Allgemeinarzt (Hausarzt) diagnostiziert Hüftarthrose und folgert umgehend: muss operiert werden. Er überweist an den Orthopäden. Dieser räumt dem Patienten allerdings Entscheidungsfreiheit ein: Sie müssen selber entscheiden, ob oder wann … Patient versucht Behinderungen und Schmerzen bis auf weiteres mit physiotherapeutischer Hilfe einzugrenzen.
  • Kardiologe, führt Ultraschall-Diagnose durch. Unmittelbar anschliessend die Schlussfolgerung: Herzklappen-Insuffizienz. Muss operiert werden. Sie können entscheiden ob sie die Klinik in X oder diejenige in Y aufsuchen wollen. Die Rückfrage des Patienten betreffend Risiken, wenn nicht operiert wird, führt nicht zu einem einigermassen klaren Bild. Zweitmeinung einer Kardiologin: Diagnose bestätigt, Schlussfolgerung nicht. Zuwarten, beobachten. (Drei Jahre nach der ersten Diagnose sind begrenzt körperliche Defizite zu verzeichnen.)
  • Onkologe diagnostiziert Myelom. Chemotherapie. Onkologe möchte Zelltherapie durchführen, wovon sich der Patient grundsätzlich distanziert. Sie wird unterlassen. Später spricht der Onkologe erneut von einer «Intensivierung der Therapie», womit erneut Zelltherapie gemeint ist. Dem Patienten wird ein Termin beim Myelom-Spezialisten im Universitätsspital vermittelt. Spezialist: mit der aktuellen Therapie können sie noch jahrelang mit guter Lebensqualität leben. Abgesehen davon ist der Nutzen einer Zelltherapie in ihrem Alter fraglich.
  • Patient, stark übergewichtig, hat Kniegelenk-Schwierigkeiten. Möchte ein neues Kniegelenk. Orthopäde entspricht dem Wunsch. Von flankierender Gewichtsreduktion ist nicht die Rede.
  • Patient kommt mit Dupuytren zum Handchirurgen. Operation wird durchgeführt. Nachkontrollen bis zur Verheilung der Narben. Keine spätere Nachkontrolle der Entwicklung der Fingerstellungen und -beweglichkeit.
  • Patient erleidet einen komplizierten Bruch des Fusses / Fussgelenks. Operation, gute Verheilung. Nach sieben Jahren treten Schmerzen in der Hüfte auf. Vermutlich durch Entlastungshaltungen haben sich die beiden Hüften in der Höhe verschoben und einseitige Belastungen verursacht. Hätten Kontrollen in grösseren Abständen und Haltungstherapie dies verhindern können? Der Orthopäde hatte damals den Fall abgeschlossen. Der weitere Verlauf war nicht sein Job.

Die in der Politik diskutierten Kosten-Massnahmen versprechen, auf einen Schlag Milliarden von Franken einzusparen. Der hier vorgestellte Vorschlag macht keine solchen Versprechen. Würde er aufgegriffen, könnte er allerdings einen kulturellen Wandel bewirken, der viel nachhaltiger ist als eine gewonnene Rabattschlacht mit der Pharmaindustrie oder einem Tarif- oder Fallpauschalenmodell, das den Ärzten aufgezwungen wird.

 

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