Monopolisierung der Empathie

Die wenigen Andeutungen im Intro zeigen, dass der Krieg längst nicht nur mit physischen Waffen ausgetragen wird. Umgehend wurde von «Leitmedien» autoritativ verfügt, dass jedes «Aber» nach Bekundung des Entsetzens deplatziert sei. Jeder Verweis auf Leiden von Palästinensern, insbesondere der Bewohner des Gaza-Streifens, wurde zum zwingenden Hinweis auf eine antisemitische Haltung. Die ganze Aufmerksamkeit musste dem Entsetzlichen des 7. Oktobers gelten. Anderes, vor allem eine Einbettung in die aktuelle Situation und deren Entwicklung durfte keinen Platz einnehmen. Wer dies nicht akzeptierte, wurde umgehend zum Antisemiten gestempelt (eine Zuschreibung, die ganz besonders in Deutschland sehr schnell zu Hand ist). Eine üble Camouflage betrieb Georg Humbel in der NZZ, der die Gesellschaft Schweiz-Palästina der Israelfeindlichkeit bezichtige, denn sie habe ein Gedicht mit Nazi-Vergleich gepostet, wie Felix Schneider im Infosperber vom 3.12.2023 berichtet. «Darin werden die Palästinenser mit gequälten KZ-Häftlingen in Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs verglichen. Israel habe das palästinensische Volk ebenfalls in Lager gesperrt. Und wenn es sich zu wehren versuche, bedrohe Israel es mit Bomben und Napalm». Der NZZ-Autor verschweigt, dass das Gedicht von Erich Fried, einem Juden, stammt. Er zitiert Fried (ohne ihn zu nennen): «Ich hoffe sogar, auch ohne jüdisches Volksbewusstsein oder israelisches Nationalgefühl, sozusagen nebenher, ein besserer Jude zu sein als jene Chauvinisten und Zionisten, die, was immer ihre Absicht sein mag, in Wirklichkeit ‘ihr Volk’ immer tiefer in eine Lage hineintreiben, die schliesslich zu einer Katastrophe für die Juden im heutigen Israel führen könnte.»

Selbst Schweigen ist verdächtig. So schreibt Birgit Schmid in der heutigen NZZ: «Seit #MeToo lautet ein Aufruf unter Frauen: ‹Speak out›, schweigt nicht, sagt eure Meinung! Der Ruf ertönt weltweit, und er wird weltweit befolgt. Frauen ermutigen einander, ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt und Sexismus zu teilen. Sie werden gehört, und es wird ihnen geglaubt. Man zeigt gegenseitig Mitgefühl. Doch seit dem Massaker der Hamas in Israel merkt man von dieser Solidarität wenig. Viele linke Feministinnen, Aktivistinnen und Frauenorganisationen schweigen seit dem 7. Oktober, und das tönt laut.» Es gilt inzwischen der Grundsatz: wer sich nicht mit Israel solidarisiert, solidarisiert sich mit der Hamas. Zwischentöne verschwinden. So kann Richard Herzinger formulieren: «Dass sich die berühmte Philosophin Judith Butler und zahlreiche andere prominente westliche Linksintellektuelle mit der massenmörderischen Hamas solidarisieren, ist schockierend. Wirklich überrascht sein kann davon jedoch nur, wer Antisemitismus noch immer ausschließlich auf der politischen Rechten verortet. In Wahrheit jedoch ist Judenfeindschaft, die sich heute vor allem in der obsessiven Verdammung Israels äußert, in der linken Ideologiegeschichte tief verankert.» (Perlentaucher 20.11.2023) Seine Herleitung führt bis Voltaire und Proudhon zurück und nennt selbstverständlich auch die vergangene DDR Staatspartei SED. Von Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich (rechtsextreme Minister der Netanyahu-Regierung) und ihrer Ideologie der «jewish supremacy» ist derzeit nicht die Rede, ebensowenig von der Siedlerbewegung und den seit dem 7. Oktober weit über hundert getöteten Palästinensern im Westjordanland erzählt Herzinger nicht. Wie schon festgestellt: Zwischentöne verschwinden.

Das Recht sich zu verteidigen

Selbstverständlich hat Israel das Recht sich zu verteidigen. Verteidigung kann durchaus heissen, sich gegen einen bewaffneten Angriff mit Waffen zu wehren und die Urheber des Angriffs dingfest zu machen. Netanyahu behauptet, die derzeitigen Bombardierungen von Städten in Gaza und die Bodenoffensive dienten diesem Zweck. Es braucht wenig militärischen und politischen Sachverstand um zu urteilen, dass der Feldzug von Netanyahu grenzenlos dumm ist. (Abgesehen davon, dass er unsägliches Leid verursacht.). Man muss sich nur die Situation vor Augen führen: Der Gaza-Streifen ist ein Territorium von der Grösse etwa des Kantons Schaffhausen, umgeben von einer Art Gefängnismauer. Dieses ganze Territorium ist mit einer Bevölkerung besiedelt, die dichter beisammen lebt als die Bevölkerung der Stadt Zürich. Von der einen Hälfte des Gaza-Streifens wurde die Bevölkerung in die andre Hälfte getrieben (damit also doppelte Dichte von Zürich). Auch in jenem Teil erfolgte kürzlich die Aufforderung, Gebiete zu räumen (weitere Verdichtung – ohne Unterkünfte und Versorgung). Und mitten in dieser kompakten Masse von Menschen befinden sich einige Tausend Hamas-Leute, die Netanyahu ausschalten will. Egal: «Israel will nun auch im Süden des Gazastreifens bis zum ‹totalen Sieg› kämpfen» titelt heute die NZZ. Und mit dem totalen Sieg winkt der ewige Friede für Israel? Der totale Sieg wird bedeuten, dass ein grosser Teil der Überlebenden einen grenzenlosen Hass auf Israel entwickeln wird – sofern sich dieser Hass in der Ghetto-Situation mit seinen Gefängnismauern nicht schon längst entwickelt hat. Ist Netanyahu tatsächlich so dumm, dies nicht zu sehen? zu glauben, dass man auf dem Weg der Vernichtung zu einem friedlicheren Zusammenleben kommen könnte? Vielleicht ist Netanyahu nicht dumm, sondern nur grenzenlos egoistisch. Er weiss aus der Geschichte, dass Kriegsherren Popularität gewinnen und er in bevorstehenden Wahlen erneut als Premierminister gewählt werden und damit der bevorstehenden Verurteilung wegen Korruption entgehen könnte. (Siehe dazu auch Uriuel Abulof in www.geschichtedergegenwart.ch.)

Das wohlfeile Attribut «Antisemit»

Es mag sein, dass Antisemitismus in den letzten zehn Jahren zugenommen hat, wie vielerorts zu lesen ist. Was ganz sicher zugenommen hat, ist die «grosszügige» Verteilung des Attributs «Antisemit» an Menschen, Aussagen und Bevölkerungsgruppen. Als disbezüglich besonders «grosszügig» erweist sich Josef Schuster, Präsident des jüdischen Zentralrats in Deutschland. Als Gil Ofarim mit der Lüge aufwartete, er sei an einer Hotel-Reception antisemitisch gemobbt worden, solidarisierte sich Schuster – wie andere auch – umgehend mit Ofarim. Nach Ofarims Geständnis, er habe gelogen, entschuldigten sich Einzelne beim Hotelmanager. Von Schuster habe ich nichts dergleichen gehört. Er kritisiert nun Ofarim ...
Manchmal braucht es keinen Tatbeweis, es genügen Argumentationsstrukturen,  «Sprachbilder» oder eine «Ableitung» – Beispiel Daniele Ganser: 1. Ganser ist Verschwörungstheoretiker (muss nicht belegt werden, weiss man ja); 2. Verschwörungstheoretiker sind rechtsextrem (Gansers Rechtsextremismus muss nicht nachgewiesen werden, leitet sich von seinen Verschwörungserzählungen her – siehe Rebecca Seidler von der Jüdischen Gemeinde Hannover in Jüdische Allgemeine vom 9.3.2023: «Verschwörungserzählungen, die häufig in antisemitischen Sprachbildern enden»); und schliesslich 3. Rechtsextreme sind Antisemiten – Voilà!
Die Wochenzeitung (WOZ) zog es vor zu recherchieren statt zu spekulieren, als sich abzeichnete, dass Ganser im Volkshaus einen Auftritt haben würde:
«Volkshaus-Präsident Bütikofer sagt: ‹Die Betriebskommission hat beim israelitischen Gemeindebund nachgefragt, ob er Ganser und seine Theorien als antisemitisch erachtet. Er hat dem Volkshaus mitgeteilt, er habe bisher keine antisemitischen Vorfälle bei Ganser registriert.› »

Die zwei Ebenen des Krieges

Bereits am 9. Oktober hatte der jüdische Historiker Michael Wolffsohn einen ganzseitigen Artikel in der NZZ. Er konzediert eingangs: «der scheinbar vermessene Versuch, mitten im Krieg diesen historisch einzuordnen, [sei] eine willkommene, ja notwendige Herausforderung, um Rationalität über Emotionalität obsiegen zu lassen.» Meines Erachtens ist Wolffsohn gescheitert. Historische Einordnung bedeutet für ihn u.a. darauf hinzuweisen: «Israel trägt nicht mehr die Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser im Gazastreifen. Dieses Gebiet hat 2005 der als Falke verschriene Ministerpräsident Ariel Sharon – gegen den massiven Widerstand von Benjamin Netanyahu und anderen – vollständig räumen lassen.» Gaza also ein freier, souveränder Staat? Das ist bestenfalls das Votum eines Juristen, nicht die Einordnung eines Historikers. Und selbst ein Staatsrechtler würde wohl einige Vorbehalte an der These der Selbstverantwortung von Gaza anbringen. Mit dieser Art von Stellungnahme eines Professors legte die NZZ den Pfad fest, dem sie in den nächsten Wochen zu folgen beabsichtigte und – mit wenigen Ausnahmen bis heute – folgt. Sie trägt skrupellos bei zur Polarisierung. Und am anderen Pol wird wird für die Palästinenser mobilisiert.

Die unsägliche Not und Brutalität derzeit im Gazastreifen bildet die eine Ebene des Kriegs, die andere Ebene wird durch die Mobilmachungen auf der Kommunikationsebene gebildet. Beides ist dermassen destruktiv und jenseits eines Weges, der zu einer Lösung führen könnte, dass Verstummen die einzige Möglichkeit zu bleiben scheint, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem Israel-Palästina-Konflikt blieb mir immerhin ein Lichtblick, wenn dieses Licht im Ganzen gesehen auch nur ein winzig kleines Flämmchen ist: Sari Nusseibeh. Nusseibeh ist Spross einer uralten Jerusalemer Familie, Oxford-Absolvent, Philosophieprofessor und emeritierter Rektor der Al Quds-Universität. Sein Buch Es war einmal ein Land ist leider vergriffen.

Nusseibeh weist immer wieder auf das aggressive Verhalten der israelischen Regierungen gegenüber gewaltlosen, zivilgesellschaftlichen Initiativen, ausgehend von palästinensischen oder israelisch-palästinensischen zivilgesellschaftlichen Persönlichkeiten oder Gruppen hin. Hier scheint sich der (israelische) Staat immer hilflos gefühlt zu haben. Gegen Intifada und terroristischer Gewalt konnte mit Gewalt zurückgeschlagen werden. In diesen Fällen schien Gewalt in der Weltöffentlichkeit legitimiert. 1987 wurde Nusseibeh von der italienischen Universität Pavia zu einem Vortrag eingeladen. Darüber schreibt er – und mit diesem Zitat will ich schliessen und mich erneut dem Verstummen hingeben:

«In meinem Vortrag widmete ich mich der Lage der palästinensischen Gefangenen. Als Einstieg wählte ich den Gedanken der Freiheit und des freien Willens, der untrennbar mit der individuellen und nationalen Identität verbunden ist. Dann schilderte ich meine Erfahrungen mit Studenten, die lange Stunden in der Verhörzelle zugebracht hatten und sie dank ihrer Weigerung, ein Geständnis abzulegen, am Ende mit einem neuen Selbstwertgefühl verließen und häufig zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich spürten, was Freiheit bedeutete. Freiheit, sagte ich, ist keine angeborene Eigenschaft, die uns auf die Stirn gebrannt ist wie der Strichcode einer Ware; sie ist auch nichts Äußerliches wie ein Pass oder das nötige Geld auf dem Sparkonto. Freiheit ist ein Ausdruck des Willens, und das Ausmaß, in dem man über sie verfügt, hängt unmittelbar davon ab, inwieweit man in der Lage ist, Angst und Egoismus zu überwinden. Durch die Ausübung des Willens können der Einzelne wie die Nation den Schlagstock des Folterers unwirksam machen und auf diese Weise eine eigene Identität entwickeln.»