Stadtwanderungen
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- Erstellt: Dienstag, 16. August 2022 17:14
Genossenschaftliches im urbanen Raum
von Karl Weber
In den letzten Wochen habe ich in Basel und Zürich verschiedene genossenschaftliche Siedlungen sowie eine Neuüberbauung in Zürich angeschaut – von aussen.
In Basel schlenderte ich durch das Freidorf in Muttenz, eine Siedlung die 1921 gebaut wurde und von Hannes Meyer, dem späteren Direktor des Bauhauses in Dessau, als erste Gartenstadt in der Schweiz konzipiert wurde. Ausserdem besuchte ich Siedlungen im Hirzenbach, die u,a, von Bernoulli entworfen wurden. Beim Hirzenbach in der Nähe des Claraspitals gelegen, handelt es sich um eine Siedlung, deren Wohneinheiten in privatem Besitz sind. Die verschiedenen privaten Besitzer haben ihr Haus in der Zwischenzeit nach ihrem Gusto verändert. Die so transformierte Siedlung wirkt deswegen sehr vielfältig, uneinheitlich und auch etwas spiessig. Viele «Hausschnitze» haben den Charakter einer Burg.
Demgegenüber gehört die eingangs erwähnte Siedlung Freidorf der COOP Schweiz und wurde auch wesentlich von diesem Unternehmen (VSK) finanziert. Wer hier wohnen will bzw. wohnen wollte, musste bei Coop arbeiten. Die Siedung spiegelt mit ihrer Konzeption die konsequente und umfassende Umsetzung der alten Genossenschaftsidee in der Form der «Gartenstadt»: Die Siedlung ist als mehr oder weniger autonomes Dorf konzipiert mit Gärten, einem Konsumladen, einem Schulhaus mit Turnhalle, Räumen für Weiterbildung, einer Sparkasse und einer eigenen Währung. Im Gemeinschaftshaus haben sich heute verschiedene Kleinfirmen eingerichtet, die wohl von der Siedlung unabhängig sind. Die soziale Struktur der Bewohnerschaft ist relativ horizontal, in der Siedlung wohn(t)en sowohl Leute aus der Führungsetage des VSK wie auch Magaziner. Die durchschnittliche Wohndauer in der Siedlung beträgt gegen dreissig Jahre. Die soziale Kontrolle ist gross und der Zwang, in der Selbstverwaltung mitzumachen enorm stark. Die Häuser selber sind sehr einheitlich, auch ihre Farben. Inzwischen errichtete Ergänzungsbauten sind identisch ausgestaltet. Die Häuser betritt man direkt von einem öffentlichen Fussweg, nicht via einen privaten Vorgarten. Hinter den Häusern gibt es private Gärten, die mit gleichartigen Zäunen gegeneinander abgegrenzt sind. Sie verfügen alle über einen einheitlichen, später eingerichteten Sonnenschutz. Alle Gärten mit einem sattgründen Rasen, obwohl sie früher als Gemüsegärten wohl der Selbstversorgung dienten. Insgesamt wirkt die Siedlung ausgesprochen einheitlich, extrem ruhig, weder ein Hund noch eine Katze sind mir über den Weg gelaufen.
In Zürich machte ich mir ein Bild von der Genossenschaft «Mehr als Wohnen» im Leutschenbachquartier und besichtigte ich den Glattpark in Opfikon. Beide Siedlungen sind relativ jung. Die Genossenschaft, die sich selber als Leuchtturmprojekt sieht, wurde auf dem Gebiet einer ehemaligen Zementwarenfabrik («Hunzikerareal») gebaut und beherbergt ca. 1700 Bewohnende. Ihr Grundstück grenzt an die Entsorgungsanlage Hagenholz mit ihrem grossen Kamin. Im Glattpark, auf dem Boden der Gemeinde Opfikon gelegen, wohnen über 7000 Menschen. Hier gibt es auch zahlreiche Arbeitsplätze, namentlich im Dienstleistungsbereich. In diese Siedlung sind verschiedene Grundeigentümer involviert. Die Wohnungen werden teils vermietet, teils handelt es sich um Eigentumswohnungen. Mietwohnungen haben hier einen respektablen Preis. Für 4 Zimmer muss gegen 4000.- Fr. bezahlt werden. In beiden Siedlungen waren jeweils verschiedene Architekturbüros am Werken, die sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen vorfanden: Die Struktur des Glattparks ist stark an rechten Winkeln orientiert und sehr schematisch. Sie erinnert an Überbauungen im realen Sozialismus der DDR. In der Genossenschaft dagegen ist der Abstand zwischen den Häusern bedeutend geringer und variabel. Vom öffentlichen Raum, einem Fussweg, tritt man direkt in die Häuser. In den Häusern selber spiegeln sich unterschiedliche «Architektursprachen». Es ist eine Struktur entstanden, die einen städtischen Charakter hat, wie etwa in einer italienischen Kleinstadt. Die Konstellation zwischen den Häusern wurde somit vielfältig gestaltet.
Die vier hier angesprochenen Siedlungen stammen aus unterschiedlichen zeitlichen Epochen. Ihre Entstehungsbedingungen, räumlichen Rahmenbedingungen und ihre Geschichte dürften in einem erheblichen Masse variieren. Dennoch fällt bei einem distanzierten Blick auf diese Siedlungen einiges auf, das – trotz aller Vorbehalte – doch bemerkenswert ist:
Zunächst ist offensichtlich, dass sich in den wahrnehmbaren Bildern der Siedlung so etwas spiegelt wie eine Eigenlogik dieser Stadtteile (vgl. dazu Martina Löw). Siedlungen sind gewissermassen von Innen entstanden und grenzen sich klar gegen ihre äusseren räumlichen Umgebungen ab. Sie profilieren sich dabei in unterschiedlicher Weise: Der Glattparkt wirkt grosszügig, sehr luftig und wegen seiner Struktur und seinen in paraleller Ordnung errichteten Bauten auch sehr geordnet. Die Fassaden der Häuser variieren, die Unterschiede sind allerdings gering. Alles wirkt irgendwie clean und mindestens partiell sehr einheitlich. Am andern Pol ist die Genossenschaft Mehr als Wohnen zu situieren. Sie ist sehr vielfältig und teilt dies auch auf der Homepage mit. Innovationen sind hier ein «Lebenselexier». Die Grenzen zwischen öffentlich und privat sind aufgelöst und werden situativ definiert. Konservativ stabil wirkt das Freidorf. Hier ist klar, welche Regeln gelten, überall. Zwischen Freidorf und Glattpark kann das Quartier Hirzenbach situiert werden. Hier fand sekundär eine Individualisierung der Reihenhäuser und ihrer kleinen Hinterhöfe statt. Diese folgt einem gemeinsamen Muster. Ihre Vielfalt ist daher begrenzt. Damit wirkt die Individualisierung zugleich relativ uniform und ähnlich. Eine Befreiung aus der Konformität ist nicht gelungen.
Dann ist offensichtlich, dass der öffentliche Raum oder auch die «Allmenden» in den vier Siedlungen einen sehr unterschiedlichen Stellenwert haben. Öffentlicher Raum als Qualitätsmerkmal wird in der Siedlung Mehr als Wohnen modern interpretiert. Es handelt sich nicht nur um Aussenräume, die so definiert werden. Öffentlicher Raum findet sich auch im Innenraum einiger Häuser (z.B. allgemein zugängliche grosse Verkehrsflächen). Hier war wohl Corbusier mit seinen Bauten in Marseille ein grosses Vorbild. Auch die zahlreichen Gästezimmer können als Indikator für diese Einschätzung dienen. Die moderne, zeitgemässe Interpretation der «Allmend» ist wohl eine Antwort auf verschiedene Bedingungen: Zunächst ist das Grundstück sehr dicht bebaut. Zwar gibt es einige Plätze. Doch diese sind nicht sehr ausladend. Flächen für einen öffentlichen Aussenraum sind somit relativ klein. Dann spiegelt sich in den vielen eher kleineren Wohnungen der soziale Wandel in der Stadt. Hier wächst der Anteil von Singlehaushalten markant. Gleichzeitig gibt es eine Nachfrage nach neuen Wohnformen, die einen veränderten Modus des Zusammenlebens ermöglichen. Stichwort hier Gross-WG. Mit den öffentlichen Räumen in den Häusern wird der erwähnten Entwicklung Rechnung getragen: Kleine Wohnungen und öffentliche Begegnungsräume. Schliesslich ist dieses Revival des Öffentlichen auch ein Indikator dafür, dass der Ort so etwas wie eine kollektive Identität hat, die repräsentiert werden muss. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Nutzung der «Allmenden» in einem Reglement klar definiert ist. Das Gegenbeispiel zu Mehr als Wohnen stellt aus meiner Sicht der Glattpark dar. Zwischen den Wohnblocks gibt es grüne, Platz schaffende Flächen. Sie geben den BewohnerInnen ein bisschen Luft. Eine kollektive Bedeutung kann diesen Flächen allerdings nicht zugeschrieben werden. Nachdem man aus dem Bus ausgestiegen ist, kann man vor der Heimkehr in die eigene Wohnung etwas frische Luft schnappen. Mit der gemischten Nutzung entlang der Erschliessungsstrasse – Boulevard Lilienthal - sollen wohl überdies Läden für einen öffentlichen Raum sorgen. Dies tun sie aber nicht, da sie nicht stark frequentiert werden. Öffentlicher Raum wird im Glattpark offenbar in Abhängigkeit von der kommerziellen Nutzung definiert. Ein enges Verständnis. Im Hirzenbach ist der öffentliche Raum wegen den individuellen Haus- und Gartengestaltungen weitgehend verschwunden. Das Private überwuchert hier alles, vor allem wenn man sich die Hinterhöfe anschaut. Im Freidorf schliesslich ist der öffentliche Raum erstarrt und reduziert. Das Gemeinschaftshaus hat seine gemeinschaftsbildende Funktion verloren. Einen Laden gibt es nicht mehr. Weiterhin gibt es jedoch gepflegte Wege und Plätze. Aber auch diese sind in traditionellen Vorstellungen gewissermassen verfestigt. Der Effekt: Alles wirkt wohl geordnet, aber auch etwas schläfrig.
Weiter ist nicht zu übersehen, dass das Programm Mehr als Wohnen auch aktiv gelebt und gestaltet wird. Die Siedlung will mehr als Wohnraum bieten und dies tut sie auch. Zu denken ist an die vielfältigen Angebote in den Sockelgeschossen, die Kneipe, die Spielplätze, die Mitteilungswände, usw. Dabei spielen kollektive Orientierungen eine wichtige Rolle. Auch der Hirzenbach mag mehr bieten als Wohnen, aber dieses «Mehr» ist stark individualisiert. Demgegenüber dient der Glattpark in erster Linie dem Wohnen und dem Schlafen. Es ist eine ruhige Wohnlage, sieht man vom periodischen Fluglärm ab. Mehr kann hier nicht erwartet werden. Ähnlich muss wohl auch, wenn auch weniger zugespitzt, die Situation im Freidorf charakterisiert werden.
Auch aus einem nur oberflächlichen Vergleich der hier vier gewählten Siedlungen lassen sich mit allen Vorbehalten einige Schlüsse ziehen: Zunächst dürfte unbestritten sein, dass genossenschaftliches Bauen zur Vielfalt des städtischen Wohnungsangebots und zur Förderung unterschiedlicher Lebensformen und Existenzweisen in hohem Masse beiträgt. Genossenschaftliches Bauen befriedigt vielfältige menschliche Bedürfnisse. Es fördert kollektive Identitäten. Gerade die Genossenschaft «Mehr als Wohnen» zeigt, dass sie innovative Hausprojekte ermöglicht hat. Ihre Qualität ist klar besser, als die Bauten im Glattpark. Zweitens wird auch deutlich, dass die Rahmenbedingungen genossenschaftlichen Bauens (u.a. bspw. Priorität Kostenmiete) wie auch eine aktive Rolle der öffentlichen Hand bei der Planung von Überbauungen unverzichtbar sind, wenn es gilt, einen öffentlichen Raum als Qualitätsmerkmal in neuen Siedlungen sicherzustellen. Der Glattpark stellt in dieser Hinsicht ein bemerkenswertes negatives Beispiel dar. Zwar wurde Opfikon mit dem Glattpark zu einer Stadt. Aber diese hat für ihre Entwicklung offenbar wenig Problembewusstsein. Gemäss Homepage der Stadt Opfikon gibt es keine organisationale Einheit für Stadtentwicklung. Offenbar fehlt dort auch das entsprechende Fachwissen. Planung gilt in Opfikon als Aufgabe der Grundeigentümer und Investoren. Die öffentliche Hand hält sich da raus. Entsprechend desolat ist das Ergebnis: Öffentliche Räume sind – von der Seepromenade abgesehen – nicht erkennbar. Städtebauliche Akzente fehlen im Quartier weitgehend. Der Quartierverein hat nur minimale Ambitionen, u.a. gutes Einvernehmen mit der Stadt. Kurz: Mit dem Glattparkt hat die Stadt Opfikon eine Entwicklungschance verpasst. Drittens zeigen die Beispiele, dass das was unter einem öffentlichen Raum in der Stadt und seinen Funktionen verstanden werden kann, dauernd zu hinterfragen und neu zu interpretieren ist, gerade im Zeitalter der Digitalisierung.