Normierung – Individualisierung

Normierung und Individualisierung sind zwei Gestaltungsvarianten gesellschaftlichen Zusammenlebens. Individualisierung ist eine Entwicklung der Neuzeit, die ihren politischen Ausdruck im Liberalismus gefunden hat. Demokratie basiert auf der individuellen Urteilsfähigkeit jedes Bürgers. Dass der Mensch sich in den letzten Jahrhunderten aus sozialen Verbänden (Familie, Sippe usw.) heraus in Richtung Individualität entwickelt hat, ist eine historisch beobachtbare Tatsache. Kaum jemand dürfte heute bereit sein, auf die individuelle Gestaltung seines Lebens zu verzichten. Auf der anderen Seite verlangt gesellschaftliches Zusammenleben Übereinkünfte zwischen Individuen. Konflikte bei der einvernehmlichen Benützung der Waschküche im Mehrfamilienhaus oder Littering an Orten mit starkem Publikumsverkehr deuten die Schwierigkeiten an, die einem guten Zusammenleben im Wege stehen. Die scheinbar einfachste Lösung für Probleme des Zusammenlebens wird oft in der Normierung gesehen. An die Stelle von sozialen Prozessen (Auseinandersetzung zwecks Lösungsfindung) treten immer längere und detailliertere Reglemente. Prozesse im Spannungsfeld von Individualisierung und Normierung werden auf diesen Seiten beschrieben.

Digitalisierung

Anhand eines Beispiels möchte ich zeigen, wie eine Spurensuche zu wesentlichen Aspekten führen kann. Sie wird zeigen, wie wir in unseren Denk- und Problemlösungsgewohnheiten eng verwoben sind mit den Ent-wicklungen, die wir «da draussen» beobachten, ja, dass wir oft selbst Wegbereiter kritisch betrachteter Ent-wicklung sein können. Digitalisierung ist etwas – so die These – an dem wir Anteil haben und das im Sozialen deutliche Spuren hinterlässt, Spuren, die wir auffinden und die uns etwas sagen können.

Baubewilligung – so oder so?
An einer Alumni-Tagung der Studienstiftung des Deutschen Volkes hielt der Informatiker und Unterneh-mensberater Carlos Härtel einen Vortrag, in welchem er auf die Digitalisierungspotentiale in verschiedenen Verwaltungs- und Wirtschaftsbereichen einging. Unter anderem ortete er Digitalisierungspotential bei Bau-bewilligungen. Das ist gut nachvollziehbar. Gemeinden haben Bauordnungen oder Baureglemente in der Form einer Sammlung von Vorschriften. Im 19. Jahrhundert wurden Bauvorschriften aus hygienischen Grün-den erlassen. Man wollte sicherstellen, dass die Bewohner ausreichend Luft und Licht erhalten. Sicherheits-aspekte kamen hinzu (Zufahrt für Feuerwehr und Polizei, Erdbeben / Statik). Mit der Zeit spielten ästhetische Überlegungen eine grössere Rolle (z.B. keine Flachdächer bei Wohnbauten in einem Dorf mit Bauernhäusern). Bauherr oder Architekt sollen ihren Plan eines Gebäudes in diesen durch Vorschriften abgesteckten Raum stellen. Schon der Architekt selbst kann anhand des Vorschriftenkatalogs feststellen, wo er innerhalb der Grenzen bleibt oder diese allenfalls strapaziert und eine Sonderbewilligung benötigt. Im Einzelnen konsta-tiert er: Anforderung erfüllt / nicht erfüllt. Nichts anderes als einen solchen Kontrolldurchgang macht die Baubehörde selbst auch: erfüllt ja / nein. Genau diese Aussagestruktur ist geeignet für die Digitalisierung, die jede Aussage auf die ja/nein-Struktur reduziert. Man braucht nur ein entsprechendes maschinenlesbares Formular zu konzipieren, um die Parameter des Baureglements bzw. des Gesuchsformulars digital verarbei-ten zu lassen. Die Technik der EDV-gestützten Digitalisierung ist nur ein letzter Schritt. Die Struktur des Weg-es, der zu einer Baubewilligung bzw. zum Entscheid geführt hat, war eigentlich bereits digital. Eine deutliche Rationalisierung der Baubehörde durch Digitalisierung scheint möglich. Dass trotz Vorschriften, die sich auf ästhetische Aspekte erstrecken, sehr hässliche oder überhaupt nicht zusammenpassende Bauten realisiert werden, konstatiert man im Nachhinein, akzeptiert das dann aber vielleicht schulterzuckend – schliesslich muss dem Bauherrn auch noch ein wenig Gestaltungsfreiheit gewährt werden.

Damit ist ein gesellschaftlich gesehen alltäglicher Vorgang rudimentär geschildert. Vielleicht ist er unbefrie-digend. Doch es kommt einem nicht ohne weiteres in den Sinn, wie man Baubewilligungen anders durchfüh-ren sollte. Wo käme man hin, wenn jeder würde wie er möchte … Dass es Alternativen gibt, wurde mir deut-lich, als ich Josef Mathis in der Gemeinde Zwischenwasser besuchte. Zwischenwasser ist eine Gemeinde am Rand beziehungsweise Hang des Rheintals (in der Nähe von Feldkirch / Vorarlberg), die sich von 525 M.ü.M. bis auf eine Höhe von etwa 2000 Meter erstreckt. Josef Mathis war dort während 30 Jahren Bürgermeister. Die Gemeinde hat (wie einige andere Gemeinden in Vorarlberg auch) kein Baureglement! Die Gemeindebe-hörde hat stattdessen einen Beirat für Architektur- und Baufragen. Jedes Bauprojekt wird intensiv durchdis-kutiert. Selbstverständlich verwendet der Beirat ebenfalls Kriterien, die zu beachten sind. So soll sich ein Ge-bäude dem Geländeprofil anpassen, nicht umgekehrt. Das heisst: grosse Terrassierungen mit Stützmauern sind unerwünscht. Gleichzeitig ist aber eine grosse Individualität möglich. Es werden Bauten realisiert, die durch normierende Bauvorschriften von vorneherein verhindert worden wären. Das Schulhaus durfte direkt an die Strasse beziehungsweise den Bürgersteig gestellt werden. Denn hier am Hang war mit ebener Fläche sparsam umzugehen. (In der Regel schreiben Baureglemente einen Abstand zur Strasse vor, den üblichen Grünstreifen mit seinen normierten Zierpflanzen.) Joseph Mathis erzählte von einem Projekt, das zunächst sehr unbefriedigend war und deshalb intensiver Beratung bedurfte. Am Ende stand eine Lösung, die auch für den Bauherrn zu einem wesentlichen Zusatznutzen führte. Der kreative soziale Prozess führte zu Ideen, die zuvor von niemandem gedacht worden waren. Für den erheblichen Beratungsaufwand entschädigte der Bauherr die Gemeinde freiwillig mit einem Beratungshonorar. Natürlich gibt es auch Negativbeispiele. Aller-dings ist die Zahl der Bauherren, die nicht zu einer befriedigenden Lösung kommen und das Baugesuch an die nächste Instanz weiterziehen oder die Ablehnung gerichtlich anfechten, sehr gering.

Damit sind zwei fundamental unterschiedliche Prozesse beschrieben: dort der normierte, digitalisierbare Prozess aufgrund von vorgegebenen Standards, hier ein sozialer Prozess gemeinschaftlicher Urteilsbildung, bezogen auf eine singuläre Problemstellung. Zweifellos braucht es für die zweite Variante einiges an Mut, Verantwortung wahrzunehmen, und grosse soziale Kompetenz. Bauen findet im Grenzgebiet von Geistesle-ben und Rechtsleben statt. Die Gestaltung eines Hauses ist ein künstlerischer Prozess, in den viele fachliche Kompetenzen, Wissen und Erkenntnisse einfliessen müssen. Gleichzeitig findet Bauen im sozialen Raum statt. Gerade wenn individuelle Gestaltungen ermöglicht werden, muss die Behörde die Frage ertragen kön-nen: weshalb darf der das und ich nicht? Individualisierung und Rechtsgleichheit sind zu verbinden. Dieser Ansatz liegt quer zu fortschreitenden Entwicklungen, die man auch professionell nennt. Professionalität de-finiert sich durch einen Kanon von Verfahrensweisen.

Es gibt andere Vorgänge, die mehr und mehr in standardisierte Prozesse gegossen werden. Zum Beispiel im medizinischen Bereich, wo Statistik einerseits und standardisierte, analytische Diagnoseverfahren anderer-seits eine immer grössere Rolle spielen. Ein weiteres Beispiel ist die Kreditgewährung durch Banken oder an-dere Finanzeinrichtungen. Sie stellen auf Analysetools ab. Entschieden wird nicht vom Kreditberater, der den Antragsteller kennen gelernt hat, sondern von einer mit Rechenkapazität ausgestatteten Kreditabteilung im Hintergrund. Ein drittes Beispiel: Strafgefangene, die zwei Drittel ihrer Zeit abgesessen haben und bedingt entlassen werden können, werden mit psychologischen und Verhaltenstests «gescant». Aufgrund der Daten errechnet ein Algorithmus, ob der Delinquent entlassen werden darf oder ob er ein zu grosses Risiko dar-stellt und im Gefängnis bleiben muss.

Der Vorteil all dieser formalisierten Prozesse ist, dass niemand eine Haftungsklage gewärtigen muss. Das Verfahren, das zur Entscheidung führt, ist vielleicht sogar von irgendeiner Stelle zertifiziert. Der «Vollzugs-person», die den formalisierten Prozess korrekt anwendet, wird kein Vorwurf zu machen sein, auch wenn es einmal zu absurden oder unmenschlichen Lösungsvorschlägen oder zu nicht prognostizierter Delinquenz kommen sollte. Doch was ist eine Therapie, was ist ein Strafvollzug, aus denen der Mensch als Individuum verschwindet nachdem er auf eine statistische Grösse reduziert worden ist?

«Die Intelligenz löst die Welt auf … »
Zurück zur Beurteilung von Bauprojekten mit den beiden Beurteilungsverfahren. Zwischen dem systemati-schen Abgleich Projekt-Vorschriftenkatalog und der sehr viel weniger strukturierten, im Sozialen gründenden Urteilsbildung klaffen Welten. Diese Unterschiede sind nicht neu. Es sind dieselben Unterschiede, die schon zwischen einem Carl von Linné und einem Johann Wolfgang von Goethe bestanden. Hier der Naturforscher, der Gestaltbildungen betrachtet und zum Wesen der Pflanze vorzudringen versucht, dort der Systematiker, dem es vor allem um die Ordnung von Pflanzen und Tieren anhand äusserer Merkmale geht. Die binäre No-menklatur der Pflanzen und Tiere, die Linné schuf, wirkt wie eine Blaupause für die binären Prozesse, auf welchen die Datenverarbeitung heute aufbaut.

Ordnen und Erkennen, was ist, liegen auf einer ersten Ebene. Eine zweite Ebene wird betreten, wenn Inten-tionen beurteilt werden sollen, das, was ein bestimmter Mensch in Zukunft tun und leisten wird. Dass die bisherige Biografie eines Menschen bestimmte Entwicklungen (Risiken) wahrscheinlicher macht oder un-wahrscheinlich erscheinen lässt. leuchtet ein. Solche (statistischen) Wahrscheinlichkeiten nutzt das Progno-seinstrument («Fotres»), welches der Psychiater im Dienste des Strafvollzugs, Frank Urbaniok, entwickelt hat. Es handelt sich um ein Computerprogramm, das Daten zu 700 Kriterien verarbeitet, mit denen ein Gut-achter oder Therapeut einen zu beurteilenden Fall (einen Menschen) Punkt für Punkt durchcheckt. Aus den Angaben zu den einzelnen Kriterien berechnet der Computer das individuelle Risikoprofil. Noch sind es Rich-ter oder Richterinnen, die über die Freilassung befinden. Wenn allerdings derartige Prognoseverfahren als State oft the Art gelten, wird sich ein Richter hüten, sich für die frühzeitige Freilassung eines Straftäters mit prognostiziertem schlechtem Risiko einzusetzen. Das digitale System weitet seinen Einfluss auf das Schicksal von Menschen aus.

Als weit weniger schicksalshaft und doch eben auch für die Zukunft Weichen stellend, wirkt der Prozess der Kreditvergabe. Kredit kommt ja bekanntlich von credere = glauben. Auch hier wären ähnliche Prognosein-strumente wie dasjenige von Urbaniok denkbar. Teilweise wird Vergleichbares auch eingesetzt. Die Aufgabe der Beurteilung ist nicht allzu schwierig, wenn es sich um Unternehmen handelt, die bereits seit einiger Zeit bestehen und mehr oder weniger erfolgreich gearbeitet haben. Aber wenn ein Jungunternehmer daher-kommt? Soll man ihn auch mit einem psychologischen oder gar psychiatrischen Instrument vermessen? Wie kommen wir dazu, an seine Intentionen und Fähigkeiten zu glauben – oder zu zweifeln?

Hier, ebenso wie bei einem Baugesuch, insbesondere wenn es sich um Projekte handelt, die deutlich von der Norm abweichen, müssen Fähigkeiten vorhanden sein, ein Gesamtbild zu entwickeln und dieses möglichst ohne Beeinflussung durch Sympathie und Antipathie und ohne an einzelnen Aspekten hängen zu bleiben, zu erarbeiten. Nur wenn wir das gewonnene Bild betrachtend bewegen, zeigt es uns seine Vielfalt. Ähnliches wäre wohl zur medizinischen Diagnostik zu sagen. Auch sie muss zu einem Gesamtbild führen und darf nicht an einzelnen Symptomen oder Analyseresultaten hängen bleiben. Auch der Lehrer in der Schule muss ein Gesamtbild eines Schülers entwickeln können. Tests, die einzelne Fertigkeiten messen, reichen nicht. Fehlbe-urteilungen von Kindern können Entwicklungsmöglichkeiten verschütten.

In jeder dieser Beurteilungssituationen ist die Neigung gross, «Objektivität» durch eine grosse Zahl von Krite-rien zu erreichen. Ein Vermögensverwalter, für den «Nachhaltigkeit» grosse Bedeutung hat, wirbt damit, dass er Anlagemöglichkeiten (Aktien, Anleihen, Fonds) anhand von 200 Kriterien beurteilt. Ein solcher Krite-rienkatalog dürfte die Frage enthalten: ist die Unternehmung oeko-zertifiziert? ja oder nein. Ein Nein könnte ein Ausschlussargument sein. Was aber, wenn ein Bauer kommt und sagt: Ich brauche einen Kredit, weil ich auf ökologische Landwirtschaft umstellen will? Der konzipierte Mechanismus würde wohl zur Antwort füh-ren: kommen Sie wieder, wenn sie ein Zertifikat haben.

Unlängst war eine Rezension des Literaturkritikers Paul Jandel mit den Worten überschrieben: «Die Intelli-genz löst die Welt auf, die Liebe setzt sie neu zusammen.». In der Rezension selbst war gar vom «Säurebad der Intelligenz» die Rede. Exakt dieses ist das Medium oder der Prozess, in welchen Verstandesdenken die Realität in ihre Bestandteile auflöst. (Wer darf von sich behaupten, dass er oder sie dies gar nicht tut?) Erst wenn die Realität durch herkömmliches Verstandesdenken aufgelöst worden ist, ist sie «digitalisierungstaug-lich». Insofern sind wir es selber und waren es bereits, bevor es Computer gab, die der Digitalisierung den Weg ebnen.

« … die Liebe setzt sie neu zusammen»
Die Methodik der diagnostischen Kriterienkataloge ist einfach zu erlernen. Wie steht es um die ganzheitliche-ren Alternativen? Auch hervorragende Goetheanisten bleiben eher wortkarg, wenn es um eine Methodik des Erlernens dieses Erkenntnisansatzes geht. Hinweise gibt es allerdings (siehe z.B. Andreas Suchantke im Jahr-buch für Goetheanismus 2007 oder Christoph Hueck in die Drei, Mai 2019). Die Methodik kann zum «richti-gen Bild» des Erkenntnisobjekts führen, zur Erfahrung der Geste, welche eine Gestalt zum Ausdruck bringt. Sie verzichtet darauf, kausale oder funktionale Zusammenhänge herauszupräparieren, etwa im Sinne von: Der Kolibri hat einen langen Schnabel, um weit in einen Blütenkelche vordringen zu können. Die Fixierung auf Kausalitäten oder Funktionalitäten hindert daran, andere eventuell wichtige Merkmale zu sehen. Das funkti-onal geprägte Denken will immer etwas über den Zweck einer Handlung erfahren. Doch warum soll man nicht bei einer Beschreibung einfach einmal stehen bleiben, ohne dem Zwang einer Antwort auf das Warum zu erliegen? Es mag zum Beispiel auffallen, dass im Grimm-Märchen «Allerleirauh» verschiedenartige Hüllen immer wieder vorkommen. Zuerst der Pelzmantel, dann die Kleider wie der Mond, die Sterne und die Sonne, die Allerleirauh in einer Nussschale (ebenfalls eine Hülle!) verbirgt. Warum immer wieder Hülle? Was bedeu-tet Hülle? Vielleicht gibt es keine Antwort – oder sie lässt auf sich warten. So lange sie wartet, bewegt sich die Frage weiter in uns. Anders, wenn wir in der Märchenenzyklopädie oder Wikipedia die Auskunft geholt haben. Dann ist das Thema «erledigt», die Frage beantwortet, bewegungslos geworden. Wer in der eher kon-templativen Haltung verbleibt, die offene Haltung des Sprechenlassens beibehalten kann, kann erleben, dass die offen gebliebene Frage wie ein Pflanze immer neue Knospen treibt. Diese Haltung ist sicher einfacher zu wahren, wo das Ziel «nur» Erkenntnis ist und sich auf Natur-Erkenntnis bezieht. Wo im Sozialen mehr oder weniger Handlungsdruck besteht, also eine Diagnose zu finden, einen Kreditentscheid zu fällen oder eine Baubewilligung zu sprechen ist, ist die kontemplative Haltung schwieriger zu erreichen oder beizubehalten.)

Wir sind täglich mit der digitalen Welt konfrontiert, beantworten Fragebogen und füttern digital arbeitende Apparate, oft ohne es zu merken. Mit unserer gewohnten und bewährten Intelligenz passen wir gut zu den Strukturen, auf denen Digitalisierung basiert. Wir ordnen und beurteilen anhand von Kriterien, die leicht in Prozesse der Informatik umzusetzen sind. Die Überwindung der Digitalisierung kann also kaum darin beste-hen, dass wir versuchen, uns ihr zu entziehen. Wir können höchstens fragen, worauf (auf welche Geräte und Programme) wir uns auch noch einlassen wollen (weil es ja so bequem ist). Die Überwindung der Digitalisie-rung wird vielmehr in der Ausbildung von Fähigkeiten und Verfahren bestehen müssen, welche die «ja/nein-Methoden» durch Bild-entwickelnde Verfahren ersetzen.

Professionalisierung

Der Beitrag zur Kritik des Professionalisierens überschreitet an Umfang das auf dieser Website Übliche. Deshalb beschränke ich mich hier darauf, jeweils ein paar Stichworte zum Inhalt der zehn Abschnitte des Aufsatzes zusammenzustellen und den Aufsatz selbst als PDF zu verlinken.

  1. Beruflichkeit und Professionalität. Professionen (Ärzte, Anwälte, Sozialarbeiter, Vermögensverwalter) berühren drei Bereiche: Als erklärtermassen wissenschaftsbasierte Berufe wollen sie (1) enge Beziehungen zum Wissenschafts-/Erkenntnisbereich pflegen; sie betätigen sich (im Idealfall) weisungsungebunden, benötigen dazu aber eine (2) staatliche Anerkennung; diese verschaffen ihnen Schutz und damit auch (3) ökonomische Vorteile.
  2. Als «Berufsschneidung» wird der Vorgang bezeichnet, der aus dem Universum möglicher Tätigkeiten heraus zur Bündelung derjenigen «Cluster» geführt hat, die wir allgemein als Berufe bezeichnen.
  3. Profession und Beruf. Als «Professionalisierung» wird das Bemühen bezeichnet, einen Beruf den Status einer Profession zu geben. Dozenten an Fachhochschule für Soziale Arbeit sind besonders fleissige Autorinnen und Autoren zum Thema – weil sie immer noch damit beschäftigt sind, Beziehungsleistungen aus der Freiwilligkeit in die Professionalität zu führen.
  4. Professionalisierung: Regelhaftes Handeln und Qualitätssicherung sind zentrale Aspekte einer Profession. Handeln ist (u.a.) dann professionell, «wenn alle Professionellen diese Regeln und Methoden in identischer Weise zur Anwendung bringen.»
  5. Professionalisierung und Macht: Professionen bilden Körperschaften, welche die erwähnten Regeln entwickeln und den Zugang zur Profession regeln. Weil die entsprechenden Tätigkeiten ihnen vorbehalten sind, kann man von Berufskartellen sprechen.
  6. Professionalisierung als Standardisierung – Ethik eingeschlossen. Regeln und Standards der Berufsausübung reduzieren die Vielfalt von Optionen in der Berufsausübung. Das Berufsbild mit seinen Regeln dispensiert den/die Einzelnen von weitergehenden Gedanken zur ethischen Fundierung der angewendeten Konzepte (z.B.im Kapitalanlage-Bereich).
  7. Konformitätsdruck und Entlastungswirkungen. Die Standardisierung bietet Halt und ist entlastend, weil die Verantwortlichkeit nicht auf die einzelne Handlung, sondern auf die richtig angewendeten Regeln fokussiert.
  8. Beruf, Profession und Sprache als Masken. Professionelle sind an ihrem kontrollierten Auftreten zu erkennen, Sprache bzw. Wortwahl eingeschlossen. Der Professionelle sagt: Ich stehe vor einer Herausforderung. Er sagt nicht: Ich habe ein Problem. Die Oberfläche ist ohne Kanten und Sprünge, was dahinter geschieht, ist wenig fassbar.
  9. Erstarrung oder Bewegung? Regeln und Masken gewähren Sicherheit – und verbauen Kreativität, Improvisation, Innovation. Form (professionelle Regeln) und Bewegung (etwa unprofessionelle Spontaneität) stehen sich gegenüber. In einer Welt, in der niemand diskriminiert werden und (sprachlich) herabgesetzt werden darf (was allenfalls Klagen nach sich ziehen könnte), wird die sichere Sprechformel der spontanen, authentischen vorgezogen.
  10. Verfahren, nicht Regeln. Regeln bieten Sicherheit, aber keine Erkenntnis. Regeln sind Struktur, Form. Bewegung wird ermöglicht, wenn die Involvierten selbst und nicht aussenstehende Regel-Experten anhand von Kriterien urteilen. Stichwort Selbstverwaltung. Allzu starre Regel- und Kriterienkataloge können von (allenfalls begleiteter) Rechenschaftslegung abgelöst werden.

Zusammenfassend:

Nicht nur die Regel-basierte Professionalisierung, sondern auch Corporate Governance und Political Correctness sind Entwicklungen, welche soziale Lebensprozesse stark mit «rechtlichen» Regel-, Struktur- und Verhaltensgrundsätzen durchziehen – selbst in den Lebensfeldern, die ohne kreative, «regelmissachtende» Individualitäten oder Teams nicht existieren könnten. Der Vorteil von Regeln: Sie entlasten, namentlich auch von Verantwortungsübernahme. Aber sie führen zur Erstickung, wenn damit Risiken vermieden werden soll. «Die schleichende Verlagerung vom Qualitätsurteil zu formellen, quantifizierbaren Kriterien zeigt sich als Folge der Bürokratie im breit ausgebauten, politisch gesteuerten Förderwesen» ist der Filmer und Publizist Mathias Knauer im Aufsatz zitiert. Gab es da nicht auch einmal einen anderen Impuls, als an der Betonwand der aufgesprühte Satz stand: No risk – no fun.

Normierung und Individualisierung: Beispiel Baureglement

Etwas mühsam kurvt der Postbus um das Hotel Staila im bündnerischen Bergdorf Fuldera. Stünde das Hotel nicht an diesem Platz, könnte der Bus geradeaus fahren. Damit Häuser nicht öfter sozusagen mitten in der Strasse und damit dem Verkehr im Weg stehen, wurden in Preussen Mitte des 19. Jahrhunderts die «Fluchtlinien» erfunden. Sie gehörten zu den ersten modernen bauplanerischen Massnahmen in Mitteleuropa. Verschiedene dieser Massnahmen hatten zunächst «technische» Bedeutung. Bebauungen mussten die Bedürfnisse des Verkehrs, der Brandbekämpfung, der Gesundheit usw. berücksichtigen. Allmählich kamen auch gestalterische (ästhetische) Aspekte hinzu. Gemeinden versuchen die Qualität von Orts- und Städtebildern dadurch zu gewährleisten, dass sie Baureglemente erlassen. Diese sehen zum Beispiel Gebäude-Abstände von Strassen und Nachbargebäuden vor, aber auch Dachformen (beispielsweise keine Flachdächer!) und anderes mehr. Doch jedermann kann sich davon überzeugen, dass diese Massnahme der Siedlungsqualität kaum hilft, eher ihre Monotonie fördert.

Im Baubewilligungsprozess überschneiden sich rechtliche (Normen-) und ästhetische (Kreativ-) Aspekte. Das Formulieren und Kontrollieren von Normen ist Bestandteil bürokratischer Prozesse, die zu den Stärken staatlicher Institutionen gehören. Ein Hauptgesichtspunkt dabei ist Rechtsgleichheit bzw. das Vemeiden von Präzedenzfällen. Das treibt die immer detailliertere Formulierung von Normen voran.
Der Katalog an Bauvorschriften ist mittlerweile so weit standardisiert, dass es naheliegend erscheint, den Prozess der Baubewilligung weitgehend zu digitalisieren. In einem nicht-technischen Sinn ist er bereits digitalisiert. Denn der Bauherr oder sein Architekt haken Punkt für Punkt ab und beantworten sie mit «erfüllt» oder «nicht erfüllt».

Gemeinden ohne Baureglement!

20160913 DSCF0462Diesem digitalen Prozess steht ein anderes Prozess-Modell gegenüber: In Vorarlberg gibt es Gemeinden ohne Baureglement, ausgestattet dafür mit Architekturbeiräten, die Gemeinderäte oder Bauvorstände begleiten. Diese prüfen jedes eingehende Baugesuch intensiv, schlagen im Gespräch mit dem Bauherrn allenfalls Änderungen vor und kommen zu gemeinsam getragenen Lösungen. Die Rekursrate liegt dabei eher tiefer als im normierten Verfahren. Lösungen werden möglich, die aufgrund eines standardisierenden Systems von Normen schon sehr früh einer Normen-Guillotine zum Opfer gefallen wären. Hier stehen sich also zwei Konzepte gegenüber: System und Prozess – wobei der Prozess ganz auf fachliche, menschliche und sozialen Qualitäten baut. Selbstverständlich kann ein «digitales» Prüfverfahren anhand von Baureglements-Normen sehr viel speditiver und mit der geringeren Fachkompetenz eines gut eingeführten Beamten abgewickelt werden – Einspracheverfahren folgen danach – in der Prozess-Variante mit Architekturbeiräten können sie weitgehend schon in den Prozess einbezogen werden.

Die digitalisierte Variante aufgrund eines Normenkatalogs wird zu einem rein technischen Prozess. Die Prozessvariante mit Beirat-Begleitung ist ein sozialer und kreativer Prozess, der zu besseren Ergebnissen (auch im Sinnes des Bauherrn) führen kann, als dies in der ursprünglichen Baueingabe angelegt war.

Dass die Prozessvariante in kleineren Gemeinden praktiziert wird und nicht in Städten, ist verständlich. Normen reduzieren Komplexität und helfen, wie oben erwähnt, Präzedenzfälle zu vermeiden. Individuallösungen mögen in kleineren sozialen Zusammenhängen (Gemeinden) kommunizierbar sein. In grösseren Gemeinden (Städten) wird sich immer jemand finden, der die Individuallösung zum Präzedenzfall machen und für sich beanspruchen will. Trotzdem müsste öfter geprüft werden, wo Normierung wirklich unausweichlich und wo Individualisierung bzw. das soziale Aushandeln möglich wäre.