Wer hat noch nicht, wer will nochmal?
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- Erstellt: Samstag, 19. Juni 2021 15:29
Strassers Gestus ist derjenige eines Neuentdeckers. Mit der Aufmachung des Artikels hat ihn die NZZ kräftig unterstützt. Die Botschaft dürfte namentlich auch bei den Schnelllesern, die sich selten Zeit für ganzseitige Beiträge nehmen (können), angekommen sein. Dass mit mehr oder weniger drastischen Worten Rassismus bei Steiner «entlarvt» wird, ist allerdings nicht neu. Immer wieder sieht ein Autor die Chance der Schärfung seines Profils, wenn er Steiner an den Pranger stellt. Selten aber wird in derart sensationsheischender Aufmachung suggeriert, das Werk Steiners sei durchwegs rassistisch tingiert («Seine Schriften sind voll rassistischer Töne»), was völliger Unsinn ist. In einem Punkt weiss Strasser gar noch mehr als seine Vor-Schreiber. Er weiss, dass Steiner «in abstrusen rassistischen Äusserungen geradezu schwelgte» (Das Rudolf Steiner-Archiv wird ihn wohl gelegentlich nach der Quelle dieser Beobachtung fragen.)
«Nur will das kaum jemand zur Kenntnis nehmen.» Weil dies bereits vor 30 Jahren ein öffentlich diskutiertes Thema war, hat 1996, also bereits vor 25 Jahren, unter Leitung des Menschenrechtsexperten Dr. Th. A. van Baarda eine niederländische Fachkommission das Gesamtwerk Steiners auf eventuelle rassistische Äußerungen hin untersucht. «Die so ent-standene Studie verfolgt dabei einen Ansatz, der die kritisierten Äußerungen Steiners nicht allein aus dessen Werkkontext zu erklären versucht, sondern ihre Wirkung [heute] [Hervorhebung und Einfügung M.W.] anhand objektiver rechtlicher und ethischer Kriterien misst. In ihrem Abschlussbericht stellte die niederländische Kommission fest, dass eine „Rassenlehre“ im Sinne einer Theorie, die die angebliche Überlegenheit einer Menschengruppe gegenüber anderen postuliert, bei Steiner nicht vorkommt. Wohl aber gibt es nach Angaben der Kommission in dem etwa 89.000 Seiten umfassenden Gesamtwerk Steiners einige wenige Stellen – die Kommission zählte 16 Zitate – die, würden sie von heutigen Autoren geäußert, aufgrund ihres diskriminierenden Charakters vermutlich sogar strafrechtliche Relevanz hätten. Bei weiteren 66 Zitaten handelt es sich nach Einschätzung der Kommission um minder schwere Fälle von Diskriminierung oder um missverständliche Äußerungen.» Das «Frankfurter Memorandum» von 2008 unter dem Titel «Rudolf Steiner und das Thema Rassismus» von Ramon Brüll und Dr. Jens Heisterkamp, aus dem ich hier zitiere, wird von Strasser erwähnt. Dass er in Kenntnis der Angaben der niederländischen Kommission zu seiner Formulierung «Seine Schriften sind voll rassistischer Töne.» kommt, weist auf einen sehr lockeren Umgang mit Fakten hin. «Seine Schriften» will Strasser allerdings nachträglich auch nicht mehr so verstanden wissen, wie sie jeder NZZ-Leser / jede NZZ-Leserin zwangsläufig auffassen muss: nämlich das Werk von weit über 300 Bänden sei voll von rassistischen Tönen. Strasser relativiert in einer E-Mail: «‹voll rassistischer Töne› bezieht [sich] natürlich nur auf die Schriften der Rassenlehre, die nur einen kleinen Bruchteil der Inhalte, um die sich Steiners Ideen bewegen, umfassen.» Wenn dies wirklich von Anfang an so gemeint gewesen sein sollte, müsste Strasser die NZZ zu einem Corrigendum auffordern. (Dass es in der Steiner-Gesamtausgabe keine «Schriften der Rassenlehre» gibt, kommentiere ich im Zusammenhang mit inhaltlichen Aspekten weiter unten.)
Damit ist der Bezug zu einer anderen Ebene angedeutet: Inwiefern trägt die Redaktion der Zeitung Verantwortung für Präsentation und Inhalt eines Beitrags – selbst wenn ein solcher in der Rubrik Meinung & Debatte abgedruckt wird? Sehr oft wird eine Headline von der Redaktion und nicht vom Autor formuliert. Wie es hier war, weiss ich nicht. Allerdings kann die Redaktion die Verantwortung für einen Titel in Grosslettern von mehr als 60 Punkt nicht abschieben: Rudolf Steiner: Rassist. Hat diese Aussage im Indikativ nirgendwo Bedenken hervorgerufen? Vielleicht ist man derlei auch schon zu sehr gewöhnt. Schliesslich wurde kürzlich auch der grossen Dame differenzierter Gesellschaftsanalyse, Hannah Arendt, Rassismus nachgewiesen. Nein, nicht Rassismus nachgewiesen, das wäre ja noch erfreulich differenziert. Sie wurde als Rassistin bezeichnet. Dies, weil sie sich in Bezug auf eine afrikanische Bewegung abschätzig geäussert hatte. Im konkreten Fall ist überhaupt nicht anzuzweifeln, dass Steiner Ausführungen gemacht hat, die (heute) als rassistisch gewertet werden können und müssen. Von einer Hannah Ahrendt bis zu einem Attentäter von Halle (beide als Rassisten bezeichnet) liegen Welten. Für den- oder diejenigen die «woke» sind, spielen Differenzierungen allerdings keine Rolle, Rassist ist Rassist. Auch für die NZZ?
Nun stellt Peter Strasser allerdings anhand des Beispiels von Kants rassistischen Charakterisierungen von Negern und Indianern die Frage, ob man den Königsberger aus dem philosophischen Kanon streichen soll. Er antwortet mit einem Nein. Es sei unsere Pflicht, derlei Zeugnisse nicht schamhaft unter den Tisch fallen zu lassen. Er wendet sich gegen den «überschiessenden Furor, den die Cancel-Culture immer öfter an den Tag legt» – und wendet sich darauf Steiner zu, dessen «abstruse rassistische Äusserungen» ebenfalls nicht gecancelt, aber endlich zur Kenntnis genommen werden sollen. Die Art und Weise, wie er Steiner präsentiert, konterkariert allerdings sein Votum gegen das Canceln. Hier scheint ihn die distanzierte Gelassenheit seines Kommentars zu Kant zu verlassen. Er scheint empört: «Trotz einer Fülle an rassistischen Äusserungen kein Rassist!» So scheint ihm nichts anderes übrig zu bleiben, als die Trophäe, die er – wie etliche vor ihm – eben entdeckt hat, hoch in die Luft zu halten: «Rudolf Steiner – Anthroposoph, Rassist» (War da nicht eben von überschiessendem Furor die Rede?) Wer eine Trophäe in die Luft hält, tut dies eben nicht im luftleeren Raum und soll sich nicht wundern, wenn ihm diese aus der Hand gerissen wird. Dieses Bild drängt sich mir bei der Betrachtung der Aufmachung des Beitrags von Peter Strasser auf. Die Beteuerung, man sei gegen Canceln, tönt da etwa so plausibel wie Trumps Beteuerung, er hätte mit der Stürmung des Capitol nichts zu tun.
Eingangs habe ich festgestellt: Wer heute – immer in kritischem oder polemischem Sinn – als Säulenheiliger bezeichnet wird, wurde von seinen Anhängern auf die Säule gesetzt. Anhänger reagieren empfindlich, Gelassenheit fehlt zumeist. Diese zu erlangen ist angesichts offensichtlicher Fehler, bewusster oder fahrlässiger Irreführungen («Seine Schriften sind voll rassistischer Töne.») allerdings auch schwierig. Umso reizvoller ist es für den «Entdecker» von Sünden gegen den (heutigen) Zeitgeist, die Anhänger aus der Reserve zu locken.
Der Kommentar zum Beitrag von Peter Strasser wäre wohl unbefriedigend, wenn ich es bei Bemerkungen zur Debattenkultur bewenden liesse. Deshalb schliesse ich mit einzelnen inhaltlichen Aspekten ab – wiederum allerdings zunächst mit einem Aspekt des Vorgehens.
Vom Stil zum Inhalt
Der Rechtsphilosoph Peter Strasser weiss mit Sicherheit besser Bescheid über die Prozesse der Rechtssprechung, namentlich im Strafrecht, als ich. Als allgemein bekannt gilt, dass für die Strafzumessung nicht allein die Tat massgebend ist, sondern ebenso die Motive, die situativen Umstände, die Persönlichkeit des Täters und seine Biografie, der soziale Kontext usw. Wenn nur die Tat massgebend wäre, dann bräuchte es keine Richter, dann könnten Polizei und Staatsanwälte Strafen aussprechen, es gäbe keine fahrlässige Tötung, keinen Totschlag, sondern nur Mord. Die erste Aufgabe des Richters ist es, zu verstehen. Erst auf dieser Grundlage kann er ein Urteil sprechen. Es ist (in der Schweiz) die äusserste Rechte, die forderte, dass Ausländer aufgrund von Katalogtaten ausgewiesen werden können. Jeder Ermessensspielraum hätte ausgeschlossen werden sollen. Ganz ähnlich kennt Cancel Culture nur die Tat (die «Katalogtat», z.B. die Verwendung eines Wortes, das auf dem Index steht). Das Resultat kommt der Inquisition gleich. Das ist ein dramatischer Zerfall einer Kultur, die sich während Jahrhunderten entwickelt hat.
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rassismuskritik an Steiner wurde von berufeneren Autoren vielfach bereits geführt, nicht nur was die Texte von Steiner betrifft, sondern auch wie Anthroposophie die «Prüfung» des Nationalsozialismus bestand beziehungsweise an einzelnen Stellen (Schulen, Heime, Verantwortliche für Kinder) sich eher anpassten statt Widerstand zu leisten. Zu diesen Autoren gehört Peter Selg.
Hier möchte ich nur kurz auf das Stichwort von Strasser eingehen: «Schriften der Rassenlehre». Ich habe bereits angemerkt, dass es eine solche Schriftensammlung nicht gibt. Ein wichtiger Teil des Werkes ist hingegen Steiners Darstellung der Evolution von Erde und Mensch. Steiner schätzte Darwin sehr (und kritisierte ihn ebenso). Mit Ernst Haeckel unterhielt er eine freundschaftliche Beziehung. Die Entstehung des Lebens war für Steiner aber kein «materieller Zufall» der in eine «Urzeugung» mündete. Bei dieser Sichtweise handelt es sich um eine der materialistischen Glaubenslehren, die nie bewiesen worden sind, sich aber einer grossen Anhängerschaft von Gläubigen erfreuen. Seit seiner frühen Beschäftigung mit Goethe war Steiner – ebenso wie Goethe – klar, dass der Gestalt einer Pflanze deren Idee zugrunde liegt (Stichwort «Urpflanze»). Deren materiell-biologische Umsetzung mag auf einer genetischen Codierung beruhen. Materialistisches Kausaldenken sieht den genetischen Code als Ursache für die Merkmale der Pflanze an. Dieser Glaube ist ebenso plausibel, wie es der Glaube wäre, mein Kugelschreiber sei die Ursache meiner Notizen. Von der Urzeugung bis zur genetischen Codierung sind die gängigen Welterklärungen voll von Glaubenssätzen. Nur fallen Glaubenssätze dann nicht als solche auf, wenn sie zum Mainstream gehören. Anders, wenn ich mit Steiner davon ausgehe, der Primat jeder Entwicklung liege beim Geist, nicht bei der Materie. Dies gilt für die Evolution generell, die man als Annäherung des Geistes an die Materie verstehen kann. Steiner schildert, wie es im Rahmen dieses Prozesses zu Differenzen oder Irrwegen verschiedener Entwicklungen kam. Etwa hier wären die oft zitierten und tatsächlich skurill (und heute rassistisch) wirkenden Erzählungen von der Entwicklung von Rassen anzusiedeln (wobei Steiner im Laufe der Zeit immer zurückhaltender mit dem Begriff Rasse umgegangen ist).
Man braucht solchen Darstellungen nicht zu folgen, man kann sie absurd finden. Aber es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man einzelne Sätze beispielsweise aus der bei Steiner-Kritikern beliebten «Wühlkiste» der sogenannten Arbeitervorträge herauspickt oder diese Schilderungen in den skizzierten Kontext stellt.
Mit den plakativen Aussagen: «Rudolf Steiner – Rassist» und «Seine Schriften sind voll rassistischer Töne» übergeht Peter Strasser erst recht die Frage, inwiefern Rassismus aus dem Denken Steiners allenfalls zwingend hervorgeht oder ob sich ein Widerspruch zu seinem übrigen Denken auftut, was Gegenstand der oben skizzierten (rechtlichen) Urteilsbildung sein müsste. Zum relevanten Kontext in einem weiteren Sinn zähle ich Haltungen zu denjenigen Fragen, bei denen Respekt oder Abwertung eine Rolle spielen können. Hier ist besonders Steiners Freiheitsphilosophie zu erwähnen, welche die (grundsätzlich Achtung fordernde) Souveränität des Individuums sehr deutlich herausarbeitet. Hier ganz explizit eingeschlossen ist die Souveränität der Frau. Steiners Formulierungen in der «Philosophie der Freiheit» (1888!) weisen Steiner als radikalen Feministen aus. Ein anderer Aspekt, der in dieses Bild gehört, ist Steiners Antinationalismus, mit der er in der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein dürfte. Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass Steiner Chauvinismus denkbar fremd war. Wie kommt er also im Zusammenhang mit seiner Darstellung menschheitlicher Evolution plötzlich zu rassistischen Aussagen?
Wenn ich auf solche Aspekte hinweise, geht es mir nicht darum, «Fehlleistungen» im Bereich Wertschätzung beziehungsweise diskriminierend-abschätziger Urteile aus dem Kontext von Steiners Evolutionslehre mit «Leistungen» andernorts zu relativieren oder aufzurechnen. An dieser Stelle geht es mir lediglich um Beispiele für Steiners Haltung zum Menschen ganz allgemein, vom Behinderten mit Down-Syndrom bis zur Geistesgrösse beispielsweise des deutschen Idealismus. Es entstehen unterschiedliche Bilder je nachdem, ob man nur einzelne Sätze rauszupft oder ob man mit dem Blick auf das Ganze Widersprüche (tatsächliche oder vermeintliche) registriert. Hätten die rassistischen Töne, die Peter Strasser vernimmt, in den 1920er Jahren die Anregungen übertönt, mit denen Steiner bis heute wirkende Entwicklungen (Landwirtschaft, Medizin, Heilpädagogik, Kunst usw.) anstiess, wäre Steiner damals wohl nicht Ziel eines nationalsozialistischen Anschlags geworden.
Mailwechsel mit Peter Strasser
Meine «Leserbrief»-Einsendung an die NZZ war sicher etwas ungewöhnlich. Ich wollte Professor Strasser gewissermassen einen Deal vorschlagen. Der «Leserbrief» hatte den Wortlaut:
«Seine Schriften sind voll rassistischer Töne» so Peter Strasser (Univ.Prof. i.R., Philosoph) über Rudolf Steiner. Es ist leicht, Pauschalaussagen zu verbreiten, wenn man nicht beweispflichtig ist. Um etwas härtere Währung ins Spiel zu bringen, schlage ich Herrn Strasser vor, dass ich ihm für jede Seite aus Steiners Werk mit «rassistischem Ton» (das Gesamtwerk soll etwa 89'000 Seiten umfassen) einen Franken bezahle. Damit er nicht zu sehr bluten muss, begnüge ich mich mit einem Rappen pro Seite für alle übrigen Seiten.
Der zuständige Redaktor, Andreas Breitenstein, leitete meinen Vorschlag an Peter Strasser weiter. Dieser schickte mir ziemlich ausführliche Zitate und Quellennachweise zu den inkriminierten Aussagen. In einer zweiten Mail folgte eine Einschränkung: «Ihre Empfindlichkeit verstehe ich schon, die Wendung ‹voll rassistischer Töne› bezieht [sich] natürlich nur auf die Schriften der Rassenlehre, die nur einen kleinen Bruchteil der Inhalte, um die sich Steiners Ideen bewegen, umfassen. Aber das reicht ja wohl, oder? Andere Autoren stehen wegen wesentlich weniger deutlichen Äußerungen heutzutage am Pranger.»
Mein Plädoyer für ein Verstehen, dass Zitate in den Kontext stellt, beantwortete Peter Strasser mit einem kleinen Aufsatz (Glosse? Polemik?) mit dem Titel «ERZOBERLENKER. Der Rudolf-Steiner-Komplex» (abgedruckt vor einigen Jahren in Die Presse.)
Als eine Art Zusammenfassung aus meiner Sicht verfasste ich den Kommentar, etwa wie ich ihn oben wiedergegeben habe und lud Herrn Strasse nochmals zu einem Kommentar dazu ein. Er verwies auf seinen Text «Erzoberlenker» und beschränkte sich im übrigen auf wenige Sätze in seiner E-Mail:
«Sie schreiben: ‹Steiner(s) Werk bietet Kuriositätenjägern tatsächlich einen reichen Jagdgrund› – das ist angesichts der von mir zitierten Stellen zu Steiners Rassenfarbenlehre (Rassenlehre soll’s ja keine sein dürfen) schon eine putzige Art, über diese äußerst befremdlichen Auslassungen zu reden. Im Übrigen bin ich ja keiner, der gefordert hätte, Steiners Bild zu stürmen oder sein Andenken einer condemnatio memoriae zu unterziehen. Ich habe, im Zusammenhang mit Angriffen auf Kant, für das Gegenteil plädiert!
Zu den Auslassungen in ihrem Blog möchte ich mich nicht äußern, sie haben ja wohl den Zweck, durch Angriffe auf die NZZ-Debattenkultur und mich eine Entlastungsflanke für all die ‹Kuriositäten› zu schaffen, die man bei Steiner sonst noch findet, bis hin zum Fünften Evangelium.»
Der Mailwechsel mit Prof. Strasser war hart und deutlich in der Sache, aber umgänglich in der Art des Kontaktes. Dafür bedanke ich mich. Schliesslich erschien in der NZZ vom 21.6.2021 mein Leserbrief, wie er hier folgt:
Leserbrief: Rudolf Steiner in seiner Ganzheit verstehen
«Rudolf Steiner – Anthroposoph, Rassist», «Seine Schriften sind voll rassistischer Töne»: Der gross aufgemachte polemische Gastbeitrag von Peter Strasser (NZZ 9.6.21), der auf Steiners Gesamtwerk zielt, ist ein Paukenschlag. Rechtfertigt der Inhalt die Inszenierung? Der Autor hat viele Vorgänger, die entsprechende «Entdeckungen» im Laufe der letzten drei Jahrzehnte publiziert haben. Strasser zitiert skurril wirkende problematische Stellen. Dass es in Steiners Gesamtwerk von gegen 100 000 Seiten eine Anzahl Formulierungen gibt, deren Wirkung nach heute geltenden Kriterien als diskriminierend gewertet werden muss, steht ausser Frage.
Angesichts grassierender Cancel Culture fragt sich Strasser, welches der richtige Umgang mit solchen Aussagen sei, stammen sie doch aus einer Zeit nationalistisch-völkischer Grundstimmung von vor hundert Jahren. Sicher nicht einfach «canceln» im Sinne von Verschwindenlassen lassen, findet er. Ob es sich nun um Kant, Hegel oder eben Steiner handelt, denen Rassismus nachgewiesen werden soll – die Kritik kränkelt an ähnlichen Schwächen: Es werden Sätze herausgegriffen, während der Kontext ausgeblendet bleibt – und ebenso die Frage, ob die besagten Passagen dem Denken und Verhalten des jeweiligen Urhebers immanent gewesen sein könnten oder ob sie im Widerspruch dazu stehen. Damit unterlassen es Kritiker, ihrer Kritik ein Verstehen des Ganzen zugrunde zu legen.
Bei Steiner heisst das: man sollte die inkriminierten Aussagen in den Kontext von dessen Evolutionserzählung stellen, angefangen bei Goethe und Haeckel. Dies kommt keineswegs einer Exkulpierung gleich. Bei Strasser bleibt der Grundwiderspruch: Man kann nicht jemanden zum Abschuss freigeben und zugleich beteuern, dass es sich gar nicht um einen solchen handle. Die Versicherung, man sei im Grundsatz gegen Canceln, tönt ähnlich plausibel wie Trumps Beteuerung, er habe mit der Stürmung des Capitol nichts zu tun.
Leserbrief von Prof. Peter Heusser
Es ist verständlich, dass Peter Strasser die in seinem Gastkommentar «Rudolf Steiner, Anthroposoph, Rassist – ein Fall für die Cancel-Culture?» (NZZ 10. 6. 21) zitierten krassen Formulierungen Steiners als rassistisch einstuft. Dennoch sind Steiners Schriften keineswegs voll rassistischer Töne, wie er behauptet. Die Zitate gehören zu insgesamt 12 Stellen im 89 000 Seiten umfassenden Gesamtwerk Rudolf Steiners, welche nach heutigen Massstäben bezüglich ethnischer Zugehörigkeit diskriminierend erscheinen, und weitere 50 Stellen sind es ebenso, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen werden. Daraus kann jedoch kein Rassismus Steiners abgeleitet werden. Die gerügten Stellen beziehen sich auf die «körperliche Konstitution» von Menschen, niemals aber auf das «geistige Ich», das gemäss Steiner das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht.
Nachweislich hat Steiner niemals Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert. Er vertrat stets als den «ersten Grundsatz» seiner geistigen Bewegung, «den Kern einer auf allgemeine Menschenliebe gegründeten Bruderschaft zu bilden, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Beruf, Bekenntnis und so weiter» (Vortrag vom 23. November 1905, GA 54). Das durchzieht Steiners gesamtes persönliches und öffentliches Leben und Wirken. So waren viele seiner engen Freunde und leitenden Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft Juden, und die von ihm gegründete Waldorfschule hat sich in allen ethnischen Kontexten bewährt, so z. B. auch in Israel, Schwarzafrika, Indien, China und in Indianerreservaten Nordamerikas. Solches verschweigt nur, wer Steiner diffamieren will.
Peter Heusser, Professur für Medizinische Anthropologie, Universität Witten/Herdecke (D)