«Nazi» darf man sagen

Vor vielen Jahren hörte ich ein Radio-Interview mit dem damaligen Leiter der Einrichtung des sogenannten Massnahmenvollzugs Arxhof (für straffällige junge Männer). Es war die Zeit, als sich die Betonung von Strafe zu Ausbildung / Entwicklung verschoben hatte. (Heutige Formulierung auf der Website: Der «Arxhof arbeitet mit delikt- und risikoorientierten Psychotherapiekonzepten und einem sozialtherapeutischen Milieu.») Dieser damalige Leiter betonte die Verabschiedung von einem Sanktionenregime, sagte aber, in zwei Situationen würden sie konsequent durchgreifen: wenn physische Gewalt angewendet worden sei und wenn jemand herabsetzende, abschätzige Bemerkungen gegenüber anderen mache.

Herabsetzende Bemerkungen
Herabsetzende Bemerkungen sind allerdings alltäglich. Ich denke beispielsweise an die einigermassen harmlosen, nicht sehr liebevollen «Qualifizierungen» von Autofahrern. In grösseren Städten, in denen ich eine Zeit lang gelebt habe, zielen sie auf Autofahrer aus der Nachbarschaft, die sich etwas ungeschickt verhalten. In Zürich sind es die Aargauer, in Bern die Fribourger und in Freiburg i.Br. die Emmendinger. Es gibt die Blondinen- und die Ostfriesenwitze usw. Es sind Äusserungen der Herabsetzung und damit ebenso verwerflich wie pauschalisierende Bemerkungen gegenüber bestimmten Volksgruppen, seien es nun die Deutschen (in der Schweiz), die Zürcher (in der Ostschweiz), die Türken, die Schwarzen, die Juden. Der Schweizer Rechtsaussenpolitiker Christoph Blocher war oder ist ein Meister des Herabsetzens. Es gibt weitere Bezeichnungen, die sich im öffentlichen Disput in jüngerer Zeit eingebürgert haben und der Herabsetzung dienen wie «Schwurbler». (Damit wurden beispielsweise Menschen eingedeckt, die den offiziell über alle Zweifel erhabenen Pharmaprodukten gegen die Covid-Pandemie Bedenken formulierten.) Journalisten verfügen über ein eigenes Repertoire an herabsetzenden Attributen, wenn sie einer Person die Glaubwürdigkeit entziehen wollen. Das Attribut «selbsternannt» habe ich früher einmal kommentiert.

Unabhängig davon, ob solche Bemerkungen fahrlässig oder bewusst aus Belustigung, Verachtung, Hass oder aus Provokation hervorgehen: In jedem Fall ist damit die Stelle bezeichnet, an der Rassismus, Chauvinismus oder andere Arten von Konfliktbereitschaft entsteht. (Die Ursache von Messerstechereien nach Mitternacht in den Ausgehvierteln liegen, gefördert durch Alkohol, praktisch immer hier.) Man kann von seelischen Beweggründen sprechen. (Wer das deutsche Vokabular scheut, spricht vielleicht von psycho-sozialen Dispositionen.) Ja, von Rassismus zu sprechen oder jemanden als Rassisten zu bezeichnen ist nur zu verantworten, wenn erkennbar seelischen Beweggründe vorliegen. Und hier bedarf es einiger Sorgfalt. In der Regel wird man sich nur erlauben können, jemanden als Rassisten zu bezeichnen, wenn man ein aktuelles Verhalten als eingebettet in wiederholtes entsprechendes Verhalten erkennen kann.

Verbale Ebene
Dies festzuhalten scheint mir wichtig, weil es heute ständig vorkommt, dass Menschen als Rassisten bezeichnet werden, weil sie bestimmte Wörter, die auf einem inoffiziellen Index stehen und als diskriminierend gelten, verwenden – etwa wenn jemand sagt: «Auf der Wiese am Dorfrand haben sich Zigeuner niedergelassen.» Es ist nicht berechtigt, einen Menschen aufgrund einer solchen Aussage als Rassisten zu bezeichnen.

Mit dem Thema «indexierter Wortgebrauch» gelangen wir auf eine zweite Ebene, die man oft als systemimmanenten Rassismus bezeichnet. Dieser hat verschiedene Quellen. Als Kind warf ich am Sonntag in der Sonntagsschule eine Münze in eine Figur, das Negerli, worauf dieses dankend nickte. Wir sagten den Zählreim «Zehn kleine Negerlein» auf. Systemimmanenter Rassismus kann Resultat der Sozialisation sein. Oder er ist Resultat wirtschaftlicher und politischer Interessen. Das Saisonnierstatut in der Schweiz, das «Fremdarbeiter» damals nur während begrenzten Zeiten in die Schweiz einreisen liess und ihnen den Familiennachzug verwehrte, muss letztlich als strukturell rassistisch bezeichnet werden, was allerdings nicht dazu führen kann, den einzelnen Arbeitgeber, der solche Ausländer beschäftigte, als Rassisten zu bezeichnen. Die christliche Entwicklungshilfe war sozusagen die Fortsetzung der Negerli-Konstellation, praktiziert nicht nur aus einer Haltung der Nächstenliebe, sondern auch der Superiorität und des Paternalismus. Das Wort Entwicklungshilfe wurde durch den Begriff «Technische Zusammenarbeit» ersetzt. Dies ist ein typischer Vorgang der «Problemlösung». Korrekturen werden auf der verbalen Ebene vorgenommen. Fremdarbeiter wurden zu Gastarbeitern. Geistigbehinderte wurden zu Menschen mit Unterstützungsbedarf usw. (in anthroposophischer Diktion wurden sie von Anfang an als «seelenpflegebedürftig» bezeichnet). Es handelte sich also nicht zwingend darum (seelische) Haltungen zu verändern, sondern sich verbal anzupassen. Es kam die Zeit der Kommunikationsberater, die dafür zu sorgen begannen, dass Unebenheiten, Ecken und Kanten in Veröffentlichungen von Unternehmen und Amtsstellen verschwanden. Sie trainierten die Verantwortlichen mit dem Ziel, ihnen ein positives Kommunikationsverhalten anzugewöhnen. Probleme verschwanden. Sie verwandelten sich in Herausforderungen. Allzu oft wird aber gar nicht mehr kommuniziert, sondern nur noch auf laufende Verfahren oder auf Persönlichkeitsschutz hingewiesen, um dann nichts zu sagen. Allzu gross ist die Gefahr, dem moralischen Gebot des Schutzes des Individuums zuwiderzuhandeln.

Kontext
Diesen Beitrag schreibe ich aus Anlass eines Eklats an einer Migrationskonferenz in Frankfurt, der mit dem Namen des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer verknüpft ist. Im NZZ-Kommentar (3.5.2023) ist zu lesen: «Die Direktorin des Islam-Instituts, die Ethnologin Susanne Schröter, berichtet, dass die Tagung von einer ‹wahnsinnigen Hetzkampagne› begleitet worden sei. Von Anfang an hätten Studenten und manche Kollegen die Veranstaltung als ‹populistische Pseudowissenschaft› geschmäht und die Teilnehmer als Nazis beschimpft. ‹Nazis, Nazis!›, skandierten auch die Demonstranten vor dem Tagungsort.» Nun ist Boris Palmer in keiner Weise ein Politiker, der einen Kommunikationsberater konsultiert, bevor er den Mund öffnet oder eine PR-Agentur beizieht, bevor er eine Entscheidung fällt. Die Meinungen der eigenen Partei nahm er wohl zur Kenntnis, war aber weit davon entfernt, sich sklavisch daran zu halten. Der Unterschied zwischen der Gesinnungsethik der Partei und anderer Moralisten und der Verantwortungsethik des Exekutivpolitikers wurden ihm schmerzlich bewusst. Er äusserte sich einerseits kritisch gegenüber der Einwanderungspolitik Angela Merkels, während er andererseits in Tübingen Flüchtlingen Infrastrukturen schuf, die von anderen Städten zum Vorbild genommen werden könnten. Die NZZ fährt in ihrem Kommentar fort: «In diese explosive Stimmung stapfte dann der Grünen-Politiker Boris Palmer. Eine weniger leicht entflammbare Persönlichkeit als er hätte die Studenten draussen zetern lassen und drinnen im Saal den Vortrag über die konkreten Anstrengungen der Stadt Tübingen, Flüchtlinge anständig zu behandeln, gehalten.» Das tragische (vorläufige) Ende: Palmer tritt aus der Partei Die Grünen aus «Vor der Bekanntgabe seines Rücktritts gab Palmer eine persönliche Erklärung ab. ‹So geht es nicht weiter. Die wiederkehrenden Stürme der Empörung kann ich meiner Familie, meinen Freunden und Unterstützern, den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und der Stadtgesellschaft insgesamt nicht mehr zumuten›, schrieb er. Als Oberbürgermeister hätte er ‹niemals so reden dürfen›. Dass der Eindruck entstanden sei, er relativiere den Holocaust, tue ihm ‹unsagbar leid›. Palmer schrieb weiter, er werde sich ‹professionelle Hilfe› suchen und ‹neue Mechanismen der Selbstkontrolle› erlernen. Außerdem wolle er sich bei den Menschen entschuldigen, die er enttäuscht habe.» (Focus online, 2.5.2023). Das ist wohl eine richtige Folgerung. Nur: Eigentlich haben wir bereits viel zu viele öffentliche Personen, abgeschliffen wie Felsbrocken in einer Gletschermühle, die vor lauter Selbstkontrolle kaum mehr zu fassen sind.

Judenstern: Symbol der Stigmatisierung
Focus: «Die darauf folgenden ‹Nazi raus›-Rufe verglich Palmer mit dem Tragen des Judensterns im Dritten Reich.» Diese Äusserung rief nun auch noch Vertreter jüdischer Organisationen auf den Plan. Ihr Befund «Relativierung des Holocaust».

Mit dem Judenstern wurde eine Bevölkerungsgruppe stigmatisiert. «Der Judenstempel [im Pass] diente der von den deutschen Behörden im Oktober 1938 nach Verhandlungen mit der Schweiz in diskriminierender Absicht eingeführten Markierung der Pässe von deutschen Juden.» (Marco Jorio im Historischen Lexikon der Schweiz) Der Judenstern beziehungsweise das eingestempelte «J» in den Pässen vereinfachten den Schweizer Behörden die Grenzkontrolle und die Rückweisung jüdischer Flüchtlinge. Mit dem Holocaust, d.h. der massenhaften Ermordung von Menschen, hatte der Judenstern zunächst nichts zu tun. Der Vorgang der Stigmatisierung ist keineswegs einmalig und spielt beispielsweise bei jedem Mobbing eine Rolle. Stigmatisierung ist eine Problemstellung für Psychologie und Soziologie. Als solche müssen alle derartigen Prozesse untersucht und verglichen werden können. Wer Vergleichen generell verhindert und an dieser Stelle Relativierung des Holocaust moniert, bewirkt genau das Gegenteil dessen, was nottut. Wo massenhaft Anzeichen einer Stigmatisierung auftreten, werden Gefahren sichtbar, wie sie schliesslich zum Holocaust geführt haben und auch erneut zu solchen Geschehnissen führen könnten. Mitschuldig wären heute ausgerechnet die Moralisten, die bei jedem geringsten Verdacht der Diskriminierung gnadenlos und äusserst selbstgerecht zuschlagen.

Ich kann deshalb die Feststellung von Boris Palmer, dass der u.a. an ihn gerichtete Ruf «Nazi raus» eine Stigmatisierung bedeutet, die dem Judenstempel oder dem Anheften des Judensterns vergleichbar ist, absolut teilen. (Eine ganz andere Frage ist die Opportunität, eine solche Bemerkung überhaupt zu machen.) Dass die jüdischen Organisationen ihre Kritik allein an Palmer richten und die Nazi-Rufe unkritisiert lassen, ist sehr befremdlich und dürfte den Juden eher schaden als nützen.

«Während die Empörung über Palmer also über alle politischen Grenzen hinweg einhellig war, wurden die vorausgegangenen Beschimpfungen nicht beanstandet. Das entspricht einem generellen Trend, nach dem die Relativierung nicht per se problematisch ist, sondern vom dahinterstehenden Motiv abhängt. Wer auf der richtigen Seite steht, darf es recht frei einsetzen. Die Empörung setzt erst ein, wenn die Falschen einen absurden historischen Bezug herstellen. Genau das ist im Falle Boris Palmers passiert. Eigentlich trafen in Frankfurt zwei Seiten aufeinander, die sich beide ‹Nazi!› – ‹Selber Nazi!› an den Kopf warfen, während das medial aber nur einer Seite übelgenommen wurde.» (Cicero 3.5.2023)

Die Nazi-Brüller-Szene ist allzu rüpelhaft, als dass man sich mit ihr solidarisieren möchte, selbst wenn man der jeweiligen Kritik gegenüber sympathisiert. Es gibt daneben aber auch viel vornehmere, gewissermassen intellektuell salonfähige Varianten der Stigmatisierung. Sie bezeichnen jemanden nicht als Rassisten, sondern stellen beispielsweise fest, in seinem Werk verwende der Autor häufig rassistische Formulierungen. Für die feinsinnigere Elite der Leser ist damit der Fall auch ohne Nazi-Gebrüll klar.

Holocaust-Instrumentalisierung
Das erwähnte Urteil der «Relativierung des Holocaust» gehört zu den Standardreaktionen der Politik ebenso zur Verteidigung der jeweils eigenen Deutungshoheit, wie der Vorwurf des Antisemitismus, auch da, wo es um die Erhellung von problematischen sozialen und politischen Vorgängen geht. Der Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialsozialisten ist einmalig, nicht aber die Sozialdynamiken, die dazu führten, dass mit Ausnahmen ein ganzes Volk dabei stumm blieb. Deutsche jüdische Organisationen sind heute mit Urteilen offenbar besonders schnell zur Hand. Als Daniele Ganser im März 2023 im Volkshaus Zürich auftrat, publizierte die Wochenzeitung (WOZ) am 30. März einen Artikel und interessierte sich u.a. dafür, ob Ganser Antisemit sei. Sie fand heraus: «‹Die Betriebskommission [des Volkshauses] hat beim israelitischen Gemeindebund nachgefragt, ob er Ganser und seine Theorien als antisemitisch erachtet. Er hat dem Volkshaus mitgeteilt, er habe bisher keine antisemitischen Vorfälle bei Ganser registriert.› Diese Einschätzung teilen nicht alle: In Hannover etwa warnte die Liberale Jüdische Gemeinde vor der Ganser-Veranstaltung, ‹denn krude Verschwörungserzählungen, die häufig in antisemitischen Sprachbildern enden, sind keine Grundlage für eine gesunde Debattenkultur, sondern schlichtweg nicht zu akzeptieren›.»

Geschichten erzählen

Erzähler, wie Franz Hohler einer ist, müssten wissen, dass man eine Geschichte nicht erzählen sollte, von der man nur das Ende kennt (und dieses nicht einmal richtig). Hohler persifliert ausgiebig die Idee, mit der die CoOpera gegründet worden ist und jahrzehntelang gearbeitet hat. Die CoOpera habe nicht nur (angeblich) ein Haus mit einem Kulturbetrieb an ein Scheichtum verkauft, sondern sie verrate damit auch ihre deklarierte Idee (was noch schlimmer ist). «Das Geld eingestrichen hat eine ‹Pensionskasse für Unternehmen, Künstler und Freischaffende›, deren Jubiläumsbuch den Titel trägt ‹Mit Vorsorge-Kapital anders umgehen.› So kann man das auch sagen.» Da haben wir es wieder, das billige Bild der renditegetriebenen Profiteure. Für mich als Mitgründer und langjährigem Stiftungsratsmitglied der Stiftung und schliesslich auch als Autor des erwähnten Buches handelt es sich hier nicht nur um Kreditschädigung, sondern auch um eine ganz persönliche Verletzung, die ich der NZZ am Sonntag mindestens ebenso ankreide wie Franz Hohler. Denn die Redaktion der Zeitung hat die Falschaussage in ihre Headline übernommen und tut im Korrigendum vom 16.7.23 nun so, als trüge allein Franz Hohler die Verantwortung für den Fehler. Feigheit nennt man das (oder Professionalität?).

230702 NZZ Hohler 1 und 2

Die Zeitungsente im urspünglichen Text (oben, linke Seite) kann man mit vielleicht 2/3 der Fläche beziffern (Bild eingeschlossen). Das Corrigendum (rechts, weiss gerahmt) macht einen Bruchteil des ursprünglichen, fehlerhaften Textes aus. Das ist übliche Praxis bei Corrigenda: möglichst unauffällig.

Den Anfang der Geschichte, die Franz Hohler problemlos bei der CoOpera hätte erfragen können, schildert Daniel Maeder, der frühere Geschäftsführer und Mitgründer der Stiftung folgendermassen:

«Der Gesichtspunkt der CoOpera war …: wir wollten der letztverbliebenen Buchhandlung in Oerlikon, die sich schon immer mit regelmässigen gutbesuchten Veranstaltungen als sozialer Brennpunkt in diesem Stadtteil eingesetzt hat, das Überleben sichern. Das Sortiment der Buchhandlung Nievergelt hatte ein sehr hohes Niveau und trug zur Bildung der Bevölkerung etwas bei. Der Verkäufer … hat damals bereits auf einen Teil des möglichen Verkaufspreises verzichtet, sofern wir als Käuferin für mindestens 5 Jahre der Buchhandlung eine existenzsichernde Miete garantierten [mittlerweile sind es acht Jahre]. Wir haben dafür sogar eine eigene GmbH gegründet … Auch konnte … der Nord-Südverlag gewonnen werden. Nach dem Umbau und der Vollvermietung konnte so doch, nicht eine maximale, aber eine marktgerechte Rendite erzielt werden. [D]as Motiv lag überhaupt nicht im Objekt ‹Immobilie Franklinstrasse Oerlikon›, sondern in der sozialen und geistigen Funktion der Buchhandlung. Wir haben uns in der CoOpera ja immer bemüht, solche Motive an erste Stelle zu setzen. Die materiellen Bedingungen haben wir diesen Motiven untergeordnet (Primat des Geistes) und teils mit phantasievollen Lösungen so gestaltet, dass die Motive innerhalb der uns durch Gesetz und Statuten auferlegten Pflichten realisiert werden konnten. Das ist eben der Unterschied zwischen konventionellen Anlagen und Anlagen, die nebst der Rendite für die Versicherten, einen Sinn haben.»

Es lässt sich natürlich viel leichter polemisieren, wenn man nur einen Teil der Geschichte kennt. Es lässt sich auch suggerieren, dass mit diesem Verkauf ein Ende der Buchhandlung in dieser Liegenschaft gekommen sei. Hohler berichtet, dass bereits eine Mietzinserhöhung vorgenommen worden sei (was derzeit hierzulande wahrlich kein Einzelfall ist). Der Mietvertrag läuft also weiter.

Nach dieser Richtigstellung bleibt die Frage, ob die Liegenschaft durch die CoOpera tatsächlich verkauft werden musste, wenn kulturelle Anliegen doch der CoOpera so wichtig sind.

Seit dem Kauf der erwähnten Liegenschaft hat in der CoOpera ein Generationenwechsel stattgefunden. Damit ist keine Ungültigerklärung der Ziele und Anliegen verbunden, welche von den Gründern (wie im erwähnten Buch beschrieben und anhand vieler Beispiele illustriert) formuliert worden sind. Verkaufen oder nicht verkaufen? Das ist eine Einschätzungsfrage, bei der Kalkulation und Werthaltungen sich gegenüberstehen. Dass es bei Einschätzungsfragen im Laufe der Zeit Verschiebungen gibt, ist normal. Die Randbedingungen spielen dabei eine Rolle. Eine solche Randbedingung ist die Tatsache, dass Pensionskassen ganz generell einen höheren Bestand an Immobilien halten, als es die Anlagerichtlinien des Bundes vorsehen. Reduktion der Immobilienportefeuilles ist also angesagt. Die CoOpera Sammelstiftung PUK ist hier wohl keine Ausnahme.
In den acht Jahren seit meinem Rücktritt aus den Funktionen bei der CoOpera Sammelstiftung PUK und der CoOpera Beteiligungen AG ist Franz Hohlers Zeitungsente der erste Anlass, mich erneut mit diesem für mich biografisch wichtigen Arbeitsgebiet zu befassen. Ich tue das in der Hoffnung, dass Franz Hohlers irregelaufener Zwischenruf ein Anlass ist, die kulturellen Aspekte der Stiftung bei Entscheidungen ernsthaft in die Erwägungen einzubeziehen. Es ist einfacher, Entscheidungen mit Hinweisen auf Rendite, Professionalität, Governance usw. zu begründen, als schwer wägbare ideelle Kriterien als ebenbürtige Aspekte zu berücksichtigen.

Mehr Informationen zur erwähnten Buchpublikation hier.

Wo genau ist das Problem?

Der Turnschuh-Vermarkter On zahlt dem vietnamesischen Herstelle etwa 18 Franken für einen Schuh, der hier 190 Franken kostet. Der K-Tipp hat die Zahlen veröffentlich und damit eine Welle der Empörung losgetreten. Wie in solchen Fällen üblich, erklärt die NZZ, dass das Problem gar kein Problem sei. NZZ Wirtschaftsredaktor Thomas Fuster am 21.1.2024:

«Als Ökonom fragt man sich, wo hier genau das Problem sein soll. Produkte in fernöstlichen Schwellenländern billig herzustellen, um sie dann in kaufkräftigen Industrieländern teuer zu verkaufen, ist kaum eine Erfindung von On, sondern das Geschäftsmodell zahlloser Firmen. Überraschend ist höchstens, dass On den vietnamesischen Herstellern gemäss «K-Tipp» deutlich weniger zahlt als etwa Adidas oder Puma, obwohl die Verkaufspreise dieser beiden Konkurrenten niedriger sind.»

Ich schrieb Herrn Fuster:

Ich gratuliere Ihnen zur eleganten Argumentation, die Sie der allgemeinen Empörung über die Preisbildung der Marke On entgegenhalten. Tatsächlich kann man denjenigen bewundern, der es schafft, den Verbrauchern ein Billigprodukt (mit vieldiskutierten Mängeln) zu Höchstpreisen zu verkaufen. On hat, wie Sie feststellen, nur einen Fehler gemacht, nämlich das Produkt mit ethischen Argumenten zu bewerben. Und jetzt sehen sich viele Käuferinnen und Käufer für dumm verkauft an. Also ein selbst verschuldeter Imageverlust von On.

Als Händler im Ruhestand frage ich: Wie würde man die Sache ansehen, wenn die Hersteller des Produkts, die keine 10% des Endverkaufspreises erhalten, nicht in Vietnam, sondern in der Schweiz sitzen würden? Ich vermute, dass man dann von frühkapitalistischen Verhältnissen und von Ausbeutung sprechen würde. Durch die Macht der Gewerkschaften, wurde die Ertragsverteilung Produzent, Handel, Verkauf korrigiert. Einen solchen Verschiebungsmechanismus können die Arbeiterinnen im globalen Süden nicht erwarten. Was können sie stattdessen tun? Sie verschieben sich selbst in unsere Breitengrade. Man wird sie bei uns als Wirtschaftsflüchtlinge beschimpfen, sie seien ja nicht an Leib und Leben bedroht, und man wird überlegen, wie man sich ihrer erwehren könnte.

Sie sehen: neben dem Imageproblem für On und Roger Federer hat solches Preisgebaren Auswirkungen weit über ein Imageproblem hinaus. On gegenüber könnte man sagen: das habt ihr Euch selbst eingebrockt. Während die cleveren Jungunternehmer ihre Millionen aus dem Going Public im Trockenen haben, ist es der Gesellschaft (möglichst inklusive SVP) überlassen zu überlegen, wie man mit Migration umgehen soll. Diese Debatte fördert Rechtsaussenparteien. Denn man wird so argumentieren, als hätten wir mit den Ursachen der Migration rein gar nichts zu tun.

Klima: Auto schneidet besser ab

«Liberal», dafür faktenreich, ist Eichenberger auch den Verkehrsmitteln gegenüber, wie die folgende Kolumne in der Handelszeitung zeigt (online am 13.11.2022). Die geneigte Leserin wird aber feststellen, dass es nicht nur auf die Menge der Fakten, sondern auch auf deren Auswahl ankommt. Mein kurzer Kommentar folgt unten im Anschluss an Eichbergers phantasiereiche Rechnerei, die von einzelnen Lesern fälschlicherweise als Glosse oder Satire verstanden wurde.

FREIE SICHT (KOLUMNE)
Klima: Manch ein Auto schneidet besser ab als das Velo und der ÖV

In der Gesamtrechnung können ÖV und Velo klimaschädlicher sein als das Auto.
Von Reiner Eichenberger

Heute ist alles Klima. So wollen viele das Auto durch ÖV und Velo ersetzen. Sie glauben, Letztere belasteten die Gesellschaft weniger und seien klimaschonend.

Das ist falsch. Das Amt für Raumentwicklung (ARE) und das Bundesamt für Statistik (BFS) schätzen die Belastung der Allgemeinheit durch den Verkehr wegen Umwelt-, Klima-, Lärm-, Unfall-, Infrastruktur- und Betriebskosten akribisch. Wenn man ihre Zahlen pro Personenkilometer rechnet, kosten ÖV und Velo um ein Vielfaches mehr als das Auto. Nur bezüglich Umwelt und Klima schneiden ÖV und Velo besser ab. Aber das liegt weitgehend an der kreativen Buchführung von ARE und BFS.

Beim ÖV wird angenommen, er fahre mit Strom aus eigenen Wasserkraftwerken der Verkehrsbetriebe und sei deshalb praktisch klimaneutral. Doch dieser Strom könnte für anderes verwendet werden. Dafür müsste er aufs öffentliche Stromnetz geleitet werden. Als Folge würden automatisch andere Kraftwerke abgeschaltet. Das wären zumeist CO2-Schleudern irgendwo in Europa. So gerechnet fahren unsere Züge (und Elektroautos) also nicht mit sauberem, sondern mit stark klimabelastendem Strom.

In einer vernünftigen Ökobilanz müssen diese «Klimaopportunitätskosten» mitgerechnet werden. Leider ist dann das Reisen im ÖV oft klimaschädlicher als im Auto.
Beim Velo ist der amtliche Trick noch frivoler. Obwohl die ganze Debatte um Energie und Klima geht, wird das Velo als Perpetuum mobile behandelt. Doch Velofahrerinnen und Velofahrer brauchen zusätzliche Energie. Dafür müssen sie mehr essen, was das Klima belastet.

Sparsame Autos brauchen auf 100 Kilometer 5 Liter Benzin und verursachen so 12 Kilogramm CO2-Emissionen, also 120 Gramm pro Fahrzeugkilometer – und bei einer Besetzung mit 4 Personen 30 Gramm pro Personenkilometer. Velofahrende verbrauchen auf 100 Kilometer bei normaler Fahrt rund 2500 Kilokalorien (kcal). Den Energie- und Muskelverbrauch müssen sie durch zusätzliche Nahrungsaufnahme ausgleichen. So bräuchten sie für die 2500 kcal etwa 1 Kilo Rindfleisch. Das verursacht in der Produktion 13,3 Kilogramm CO2.

Fleisch essende Velofahrerinnen und Velofahrer verursachen also pro Personenkilometer 133 Gramm CO2 – das Vierfache des gut besetzten Autos. Wenn sie die Fahrenergie aus Milch gewinnen, verursachen sie pro Personenkilometer 35 Gramm CO2, also immer noch fast 20 Prozent mehr als das Auto. Leider gilt die klägliche Bilanz auch für Veganerinnen und Veganer.

Viele vegane Speisen sind erstaunlich CO2-intensiv. Gut fürs Klima sind eigentlich nur reine Nudelesserinnen und Nudelesser. Sie verursachen pro Personenkilometer etwa 12 Gramm CO2, also knapp die Hälfte des Autos. Aber leider werden sie bald Eiweissmangelerscheinungen haben.

Kommentar:

Eichenberger bezeichnet die Zahlen des BFS (Bundesamt für Statistik) und der ARE (Bundesamt für Raumentwicklung) als Ergebnis «kreativer Buchführung». Tatsächlich liegen die beiden Ämter in Sachen Kreativität weit hinter dem Herrn Professor. Als Anwohner einer sogenannten Quartiererschliessungsstrasse kann ich mir einen guten Eindruck von den tatsächlichen Verhältnissen verschaffen – beispielsweise in Bezug auf das 5-Liter-Auto, mit dem Eichenberger rechnet (gibt es hier nicht), oder mit der Auslastung der Autos mit vier Personen (gibt es ebenfalls nicht – jede/r hockt allein, höchstens zu zweit in seiner Karosse). Repräsentative Zahlen hätte sich Eichenberger beim Bundesamt für Statistik ohne weiteres beschaffen können, was unter dem Aspekt der Wissenschaftlichkeit angezeigt gewesen wäre. Grösste Kreativität entwickelt Eichenberger dann mit der Energierechnung für Velofahrer (mit Seitenhieb gegen vegane Ernährung). In meinem Leserbrief habe ich vorgeschlagen, statt einer zusätzlichen Belastung der Kilometerkosten infolge gesteigerter Nahrungsaufnahme (ist mir selber übrigens noch nie aufgefallen – allenfalls gesteigerter Durst) einen Abzug Dank tieferer Gesundheitskosten aufgrund von vermehrter Bewegung zu rechnen.

Doch auch Autofahrer brauchen Bewegung. Viele fahren ein paar Kilometer mit dem Auto, um dann mit dem Hund ein paar hundert Meter zu spazieren – nicht zu viert, alleine mit Hund (Wenn die Hälfte der in der Schweiz lebenden 544'000 Hunde nur zweimal pro Woche nur drei Kilometer zu ihrem Auslauf (hin und zurück) gefahren werden, dann resultieren jährlich 170 Millionen Kilometer oder mit einem 6-Liter-Auto – sehr oft wollen die Hunde in einem SUV fahren, eher also mehr als 6 Liter – über 10 Millionen Liter Sprit. So viel nur nebenbei zum Phänomen, das mir auf der Schwand/Münsingen wie auf der Allmend/Frauenfeld begegnete.) Wie ich als Anwohner eines Schulhauses mit Turnhalle beobachten kann, fahren die bewegungsbedürftigen Autofahrer (jeder für sich) abends zur Turnhalle, um dann spätabends in einer endlosen Kolonne von da wieder wegzufahren (jeder für sich), nach Hause, wo sie dann vielleicht ihre Sonderration Pommes und zwei, drei Bier vertilgen, um den Energie- und Flüssigkeitshaushalt zum Ausgleich zu bringen. Das müsste Eichenberger ebenfalls in Betracht ziehen.

Eichenberger kann sich nach seiner schrägen Rechnerei mit seinem Titel herausreden: «Manch ein Auto schneidet besser ab als das Velo und der ÖV. In der Gesamtrechnung können ÖV und Velo klimaschädlicher sein als das Auto.» Ja, Eichenberger behauptet nicht, dass der Autoverkehr (der im Freizeitbereich am meisten Kilometer erzielt) grundsätzlich besser als Velo und ÖV abschneiden.

Nach der Lektüre eines solchen Textes frage ich mich, ob Professorentitel tatsächlich nur verliehen werden sollten. Verleihen, nicht verschenken auf Lebenszeit. Verleihen bedeutet, dass etwas auf Widerruf vergeben wird – etwa so wie die Approbation eines Arztes. Wenn ein Professor die Regeln wissenschaftlicher Auseinandersetzung krass verletzt, wie im vorliegenden Fall, sollte der Titel entzogen werden. Auch einer Hochschule kann es ja nicht ganz egal sein, welchen Unsinn seine Professoren verbreiten.

Ernannte und Selbsternannte

Bangen um die Deutungshoheit?

Diese Ausführungen sind von einer Replik gefolgt.

Wer ernannt wird, ist zuständig, wird als kompetent angesehen – oder ist zumindest legitimiert. Etliche Funktionen lassen sich gar nur aufgrund von Ernennung ausüben. Selbsternannte Polizisten kann es nicht geben, oder selbsternannte Richter. Ernennung setzt ein System voraus, das Legitimation verleihen kann und somit ernennen darf. Wie es um die Legitimität des Systems steht, ist eine andere Frage. Auch «Selbsternannter Professor» klingt seltsam. Professor setzt z.B. Universität und ein entsprechendes Berufungsverfahren voraus. Gerne nehmen wir an, dass dieses über alle Zweifel erhaben ist. Selbsternannter Wissenschafter geht schon eher, erst recht selbsternannter Berater, Unternehmer oder (Kunst-) Maler. Auch wenn sich jemand jederzeit als Berater betätigen kann und allein von der Anerkennung seiner Klienten und nicht etwa von derjenigen einer Behörde abhängig ist (im Unterschied zu Staatsschullehrern oder Professoren), lieben es Journalisten, das Attribut «selbsternannt» einzusetzen, wenn sie einen Schein von Fragwürdigkeit auf diese Beratungsperson werfen wollen. «Selbsternannt» dient in diesem Moment der Stimmungsmache. Erhellende, informative Funktion kommt dem Attribut nicht zu. Nie.

Ein anderer Begriff: Querdenken oder Querdenker. Plötzlich war er da. Oft tauchte er gemeinsam mit anderen Begriffen auf. Eine WOZ-Journalistin, die von der Konstanzer Corona-Demo berichtete, schrieb von «rechtsesoterischen Referenzen». Von Alu-Hüten war die Rede. Es kam kaum je vor, dass die Bedeutung dieser «jungen» Begriffe genauer umschrieben wurde. Anfangs war das Bedürfnis nicht zu übersehen, die beobachteten Phänomene auf der Links-rechts-Skala einzutragen. Doch zu vieles stand quer zu dieser eindimensionalen Klassifizierung. So blieb Querdenken übrig. Doch vergeblich suchte und sucht man nach einer Erhellung dieser Begrifflichkeit. Sie blieb pauschal, unbestimmt und damit im Grund genommen untauglich für die Beschreibung sozialer Phänomene oder von Denkrichtungen. Gegen diese Unbestimmtheit unternimmt auch Jeannie Moser nichts.

Nochmal ein Sprung: «Geschichte der Gegenwart». Dies ist eine Website, die (so meine Empfindung) von hoher Warte aus wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen beobachtet und kluge Aufsätze dazu publiziert, deren Lektüre ich gerne empfehle (https://geschichtedergegenwart.ch/). Da liest man beispielsweise über «Machtverhältnisse statt Mythen. Für ein emanzipatorisches Verständnis von Wissenschaftsfreiheit» oder «Wie anthroposophisch waren die Grünen?». Der jüngste Beitrag – und Anlass für diese Zeilen – lautet: «Das gekaperte Misstrauen. Zu Trumpismus und ‚QUERDENKEN‘».

In Sachen Gelehrsamkeit ist auch diesem Aufsatz kaum etwas vorzuwerfen. Trotzdem ist er irgendwie seltsam. Das beginnt mit der Themenformulierung beziehungsweise der Überschrift: Da werden zwei ins selbe Bett gelegt: Trumpismus und Querdenken. Ist dies einfach a priori schon klar? Weder Trumpismus noch Querdenken werden näher umschrieben. Hingegen werden gleich eingangs zwei Gemeinsamkeiten festgemacht: «Selbsternannte ‚Querdenker*innen‘ bringen sich im pandemischen Ausnahmezustand in Stellung und stoßen in Berlin protestierend bis auf die Stufen des Reichstags vor; eine Trump-Anhängerschaft wiederum stürmt, nachdem der abgewählte Präsident ostentativ von gestohlener Wahl gesprochen hat, das Kapitol in Washington.» Es zeugt von «Grosszügigkeit», besser gesagt Oberflächlichkeit, diese beiden Aktionen auf dieselbe Stufe zu stellen – nur weil in beiden Fällen Stufen erstiegen worden sind. Dass diese Quertypen auf den Reichstagsstufen für die damalige Grossdemo sicher nicht repräsentativ waren, spielt keine Rolle. Die hübsche Parallele soll nicht gestört werden. – Und dann eben: Durch den ganzen Aufsatz hindurch werden Querdenker (ich schenke mir das obligate *innen) als «selbsternannt» bezeichnet. Ja, von wem könnten Querdenker denn ernannt werden? Vom Verfassungsschutz oder vom Bundespräsidenten? Meine notorische Skepsis gegenüber AutorInnen, die dieses Attribut völlig unmotiviert – wie mir scheint – einsetzen, schlägt wieder einmal zu. Oder eben das Misstrauen, um das es in diesem Aufsatz vor allem geht. Der Vollständige Titel lautet nämlich: «Das gekaperte Misstrauen. Zu Trumpismus und ‹QUERDENKEN›» Unter welcher Flagge ist denn Misstrauen bisher gesegelt, wer war nicht wachsam genug, sodass das Misstrauen nun gekapert werden konnte?

Neu ist die Haltung des (professionellen) Misstrauens ja nicht. Einst hiess es Zweifel oder Skepsis und ist geläufig als lateinisches Descartes-Zitat: Cogito ergo sum, was in der vollständigen Version lautete: «Dubito ergo cogito ergo sum» (Ich zweifle, also denke ich, also bin ich.) Das ist die Haltung, die sich die Wissenschaft auferlegt und oft auch erfolgreich praktiziert. «Die organisierte Skepsis ist der Kern des wissenschaftlichen Prozesses» schreibt Eveline Geiser in der NZZ vom 24.1.22 – Und nun soll diese Skepsis, dieses Misstrauen also gekapert worden sein durch Menschen die sich selbst ernannt haben, also eigentlich nicht legitimiert sind, skeptisch oder misstrauisch zu sein?
Der Aufsatz ist reich an Bezügen und an Aussagen, die durchaus lohnen würden, darauf einzugehen. Das ist aber nicht das Ziel dieser Zeilen. Vielmehr möchte ich meinerseits eine These wagen.

Die Querdenker stellen die alleinige Legitimation zur Wissensproduktion des Wissenschaftssystems in Frage. Das kann die Vertreterin des Wissenschaftssystems nicht auf dieser sitzen lassen.

Doch wer sind die Querdenker überhaupt? Einmal mehr im Verlauf der Debatten des letzten Jahres wundere ich mich, wie oft und ausführlich über «Querdenken» geschrieben wird, ohne dass das Phänomen selber einigermassen fundiert dargestellt wird. Soweit ich sehe (meine Sicht ist durchaus beschränkt), ist die Basler explorativ-soziologische Studie nach wie vor der einzige Versuch, Motive zu ergründen und sozioökonomische und kulturelle Bezüge sichtbar zu machen. (Irrtümlicherweise wurde sie immer wieder so zitiert, wie wenn es sich um eine grosse repräsentative Studie handeln würde.) Wie kann man sich ernsthaft wissenschaftlich über einen Gegenstand unterhalten, den man nur sehr vage ins Auge fasst?

Vor bald vierzig Jahren wurde ich – nach Jahren an der Hochschule – Unternehmer (selbsternannt!). Mich trieb Misstrauen an, Misstrauen gegenüber der bei uns praktizierten umweltzerstörerischen Landwirtschaft. Ich wollte mit meinen Partnern Bioprodukte besser zugänglich machen. Es war die Zeit, als der Chef des Kantonslabors und spätere Professor am chemischen Institut den Bauern riet: schreibt alles mit «bio» an, es ist ja alles gewachsen, also biologisch. Es war die Zeit, als wir sanktioniert wurden, weil wir Kartoffeln und Milch über den staatlich festgelegten Preisen verkauften. Die Landwirtschaft und die Preise waren gleichgeschaltet. Es war zweifellos auch die Zeit, als sich die Dezimierung der Insekten- und Vogelwelt und die Vergiftung des Trinkwassers anbahnte – aber das Misstrauen gegenüber umweltzerstörerischen Praktiken schien sich auf diejenigen zu beschränken, die man rückblickend zur Zivilgesellschaft zählt. Wie wäre es denn, wenn ein Aufsatz, das professionelles und selbst ernanntes Misstrauen ins Zentrum stellt, statt der Schnittmenge Trump / Querdenken diejenige von Zivilgesellschaft und Querdenken betrachten würde?

Denn es ist ja erstaunlich, dass ein Misstrauen den staatlich legitimierten Wissensproduzenten gegenüber erst jetzt diagnostiziert wird. Die staatlich legitimierten Wissenproduzenten haben verschiedenste Technologien entwickelt, denen grosses Misstrauen entgegengebracht wurde – zum Beispiel: Industrielle Landwirtschaft mit Massentierhaltung, massivem Antibiotika-, Fugizid-, Insektizid- und Herbizid-Einsatz; AKW; Gentechnologie; 5G-Technologie. Keinem dieser wissenschaftlich fundierten Techniken erwuchs Widerstand aus den etablierten und «legitimierten» Wissenschaftsinstitutionen, auch nicht seitens der etablierten Parteien (diese sprangen jeweils später auf die fahrenden Züge auf und verhalfen den Graswurzel-Initiativen zum Erfolg). – Weshalb wird «Kaperung des Misstrauens» erst jetzt zum Thema?

Wer sich im Rahmen seiner wissenschaftlichen Laufbahn nicht nur in Hörsälen und Institutsräumen aufgehalten hat, sondern sich gelegentlich auch an einen Stammtisch setzte, weiss, dass Misstrauen eine verbreitete Grundstimmung ist. Sie lässt sich mit den drei Wörtern wiedergeben: «Si händ wider … » Sie haben die Strasse nun schon zum dritten Mal aufgerissen und wieder zugeschüttet. Immer schwingt hier nicht nur das Unverständnis mit, sondern der Befund: so etwas kann keiner verstehen. In diesem «Sie haben wieder … » ist nicht nur notorisches (und resignatives) Misstrauen enthalten. («Sie machen doch, was sie wollen.») Das «Sie» weist auch Ansätze zu Verschwörungstheorien auf. Wenn dann «die da oben» zu Beginn der Pandemie verlauten lassen: Masken nützen nichts, etwas später aber Masken vorgeschrieben werden, dann ist bestätigt: so etwas kann keiner verstehen.

Aber ich kann verstehen: Wenn mit den Querdenkern (was immer man darunter verstehen mag) eine ziemlich mächtige Bewegung entsteht, die anderes, «unwissenschaftliches» und vor allem «nicht-legitimiertes» Wissen produziert und gegenüber «Fakten» immun zu sein scheint, ist dies mindestens partiell eine Infragestellung der Deutungshoheit der staatlich legitimierten Wissenschaft. Das kann diese nicht dulden. Die Querdenker sind zu erledigen, einerseits dadurch, dass die Autorin sie mit Trumpismus gleichsetzt, andererseits dadurch, dass sie deren Illegitimität durch penetrantes Wiederholen des Attributs «selbsternannt» jedem Leser, jeder Leserin einhämmert.

Es gäbe Alternativen. Die Kritik an den oben erwähnten Mensch- und umweltschädlichen Technologien wurde teilweise auf der Grundlage von (heterodoxen) Erkenntnisansätzen vorgebracht, die wissenschaftlich in der Regel in Frage gestellt werden. Ein Beispiel für solche Infragestellungen ist die Wirksamkeit von extrem verdünnten Substanzen (Homöopathie). Übereinstimmend schliessen Naturwissenschafter die Möglichkeit von Wirksamkeiten a priori aus, denn, so die Begründung, in den extremen Verdünnungen würde sich die ursprüngliche Substanz gar nicht mehr nachweisen lassen, also könne die Verdünnung auch nicht wirksam sein. Weil «man» dies weiss, muss man auch nicht überprüfen, was tatsächlich schon vor Jahrzehnten in Laborversuchen nachgewiesen wurde – «weil nicht sein kann, was nicht sein darf». (Ich unterstreiche: ich schreibe hier nicht von Medizin und Heilwirkung, sondern nur von Wirksamkeit, nachgewiesen etwa in Wachstumsversuchen oder in Kristallisierungsprozessen. Mehr dazu auf dieser Website) Hier darf man vielleicht mit Recht sagen: das Misstrauen ist gekapert worden, es ist (bei den Wissenschaftern) nicht mehr da. Der Glaube an materielle Kausalitäten verstellt den Blick.

«Ernannte» Wissenschafter, die sich als allein legitimiert ansehen, sollten etwas mehr Bescheidenheit an den Tag legen. Sie könnten sich gelegentlich die Haltung von Ethnologen (wie weiland z.B. Wolf-Dieter Storl) zulegen, die nicht a priori über Selbsternennung urteilen, sondern auch auf den ersten Blick absurde Praktiken getreulich erforschen. (Storl arbeitete und beobachtete auf Demeter-Höfen.) An und für sich ist es ja erfreulich, dass die Eindimensionalität politischer Einordnung mit «links» und »rechts» etwas aufgelöst wird, auch wenn dies vorübergehend für Verwirrung sorgen mag und die etablierten Politik- und Wissenschaftsdeuter provoziert. Ebenso erfreulich ist der Vorgang der «Kaperung des Misstrauens». Wenn auf dieses eingegangen und es nicht nur mit Frontalkritik eingedeckt wird, könnte sich allenfalls eine «reflektierte Misstrauenskultur» entwickeln. Misstrauen kann auf keinen Fall die ausschliessliche Domäne des Bereichs sein, der sich als «organisierte Skepsis» beziehungsweise als «legitime Wissenschaft» versteht.

Schlussbemerkung: Es ist hoffentlich überflüssig zu betonen, dass es mir mit diesen Zeilen nicht um eine Ehrenrettung von «Querdenken» geht. Sie sind allein eine Reaktion auf die mehr oder weniger subtile Überheblichkeit der Autorin, die sie mit vielen teilt, die über heterodoxe Auffassungen und Strömungen schreiben.

Replik

Widerspruch ist mir immer sehr willkommen, auch wenn ich die geäusserte Meinung nicht teile. Jeder Widerspruch hilft, eine Sache unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die Lust, eine Duplik anschliessen zu lassen, ist selbstverständlich gross. Ich verzichte darauf, weil die Leserin / der Leser selber zu einem Urteil kommen wird. M.W.


Lieber Matthias

Zuerst vielen Dank für Deine Meinungsäusserungen auf Deiner Website. Ich bin oft anderer Ansicht, in gewissen Fragen (z.B. Sinn oder Unsinn der Corona-Impfungen) grundsätzlich, aber meist nur partiell. Und weil ich eben mit vielen Deiner Aussagen auch einig gehe oder sie mir plausibel oder zumindest überdenkenswert scheinen, habe ich meinen gelegentlichen Dissens zu einzelnen Deiner Thesen nie geäussert. Man soll unter Freunden Meinungsunterschiede auch tolerieren können, ohne sie immer «ausdiskutieren» zu wollen.

Du willst mir und anderen den Begriff «selbsternannte Querdenker» ausreden, indem Du das Attribut «selbsternannt» im Falle der Querdenker für nicht angebracht, ja widersinnig hältst. Ich kann Dir bei Deiner Argumentation nicht folgen. Ich widerspreche schon Deiner Behauptung: «Selbsternannte Polizisten kann es nicht geben oder selbsternannte Richter». Wenn Du wie ich an der Staubeggstrasse wohntest, würdest Du einen selbsternannten Polizisten kennenlernen. Er sitzt als Rentner tagelang am Fenster seiner Blockwohnung und beobachtet, ob er Autos auf den Parkplätzen der Blauen Zone sieht, die länger geparkt sind, als es die Zeitbeschränkung von 2 Stunden zulässt. Entdeckt er solche Parksünder, greift er zum Telefon und meldet sich bei der Polizei -- der legitimen, nicht etwa einer selbsternannten. Er trägt keine Uniform, ist nicht beamtet und von keiner Behörde ernannt. Er ist eben nur ein «selbsternannter» Polizist. Ich kenne auch «selbsternannte Richter». Auch sie haben kein Richteramt inne, werden von niemandem gewählt oder kontrolliert, und dennoch gefällt es ihnen, zu richten oder Richter zu spielen. Es sind Richter aus eigener Machtbefugnis, oder besser Machtanmassung.

Mein wichtigster Einwand ist: «Querdenker» ist keine Fremdbezeichnung! Es ist ein Etikett, das sich Leute selbst zugelegt haben, die damit ausdrücken wollen, dass sie quer zu gängigen Meinungen und Ansichten, quer zum Mainstream denken und nicht einfach träge mit dem Strom schwimmen. Wer sie also mit diesem selbstgewählten Titel anspricht, bedient sich keiner Polemik und macht sich auch keines Verstosses gegen die im seriösen Journalismus nötige terminologische Exaktheit schuldig. Es liegt jedoch eine stolze Selbstadelung in diesem Begriff «Querdenker» und auch eine Herabwürdigung aller «nicht quer Denkenden» zu unterwürfigen, ja stupiden Opportunisten, die höchstens nach-denken, was ihnen von den Autoritäten, den Meinungsmachern, der «Lügenpresse» vorgedacht wird. Ich empfinde Leute, die sich als prinzipielle «Querdenker» bezeichnen, deshalb als ziemlich arrogant und anmassend. Sie setzen Andersdenkende herab, indem sie diesen unterstellen, sie dächten faul, stromlinienförmig oder seien zu selbständigem Denken (das immer per se «quer» sein sollte) unfähig. Ich würde für mich in Anspruch nehmen, in meinem ganzen Leben immer wieder, ja auf dem Feld der politischen Debatten sogar meistens, quer zur Mehrheitsmeinung gestanden zu haben. Und dennoch fände ich es überheblich, eitel und anmassend, mich deswegen zum «Querdenker» emporzustilisieren. Andere scheinen solche Skrupel nicht zu kennen. Aber weil ihnen dieser Titel keine Akademie der Wissenschaften, kein Rat der Weisen, keine Experten¬kommissionen, nicht einmal repräsentative Meinungsumfragen verliehen haben, sondern sie sich den Orden selbst an die Brust heften, darf man sie meines Erachtens völlig zu Recht als «selbsternannte Querdenker» bezeichnen. Damit kommt lediglich zum Ausdruck, dass sie für ihre Gemeinschaft diesen einen Namen gewählt haben, der ihre Gegner schon dem Wortsinn nach disqualifizieren soll.

Wenn Du die Übergriffe der «Querdenker» – sei es als blosse Massnahmen-Kritiker, als prinzipielle Impfgegner oder gar als Pandemie-Leugner – vor dem Reichstag in Berlin einerseits und die Taten der Erstürmer des Kapitols im Januar 2021 als grundsätzlich nicht vergleichbar postulierst, begehst Du meines Erachtens einen Denkfehler: Vergleichen lässt sich immer nur Ungleiches. Natürlich sind die beiden Bewegungen nicht identisch, und wer sie gleichsetzen möchte, simplifiziert in ungehöriger Weise. Aber die deutschen Massnahmen-Gegner und die amerikanischen Trump-Anhänger eint mehr als der blosse Versuch, ein Parlamentsgebäude zu stürmen. Es sind nicht einmal die vereinzelten Neo-Nazis mit ihren gemeinsamen Emblemen hüben und drüben, die jeden Demokraten zur Wachsamkeit gegenüber beiden Bewegungen anfeuern sollten, es sind gerade die in grosser Anzahl bei beiden Ereignissen auftretenden Esoteriker, Anarchisten und «Autonomisten», die einen Vergleich (keine Gleichsetzung!) geradezu herausfordern. Die nun seit einem Jahr laufenden und von den Republikanern immer wieder torpedierten Untersuchungen gegen einzelne auf dem Videomaterial als besonders vehemente Exponenten erkennbare Kapitol-Erstürmer hat erstaunliche Biografien zu Tage gefördert: Schamanen, Naturheiler, Zivilisationsverächter, Leute, die jahrzehntelang der politischen Linken zugeordnet wurden. Und wenn sie unter dem Gros der Trump-Anhänger auch eine kleine Minderheit sein mögen, so ist dieses Amalgam von Anarchismus und reaktionärem Nationalismus und Demokratie-Verachtung jedem, der sich etwas in der modernen Geschichte auskennt, ein Alarmzeichen. So, als Spange zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten, als Kernfusion zweier vom Ursprung her gegensätzlicher Ideologien, hat der italienische Faschismus seinen Anfang genommen, wie Zeev Sternhell in seiner Untersuchung «Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini», Hamburg 1999, nachgewiesen hat.

Ich will nicht in Alarmismus verfallen und unseren Schweizer «Friiheits-Trychlern» und anderen Massnahmengegner nicht die Bildung einer neuen Rechtsbewegung unterstellen. Aber es irritiert doch, wie schnell sich im Verlaufe der Pandemie Leute vereinigen konnten, die sich noch vor zwei Jahren spinnefeind waren: Evangelikale, die Homöopathie als Teufelszeug brandmarkten, mit Anthroposophen; Autonome, die in Zürich Jahr für Jahr lautstark und manchmal gewaltsam gegen die Demonstranten der Recht-auf-Leben-Bewegung vorgegangen sind, mit eben diesen Abtreibungsgegnern; militante Veganer und Tierschützer mit SVP-Exponenten, denen schon der Begriff «Bio» ein Graus ist. Gerne hoffe ich, diese seltsamen Zweckbündnisse lösten sich auf, sobald das Ende der Pandemie erreicht ist. Wie schön wäre es, wenn das noch diesen Frühling der Fall sein sollte, wie es jetzt gerade scheint. Ich sehne mich nach der Aufhebung der Corona-Massnahmen, nicht weil ich nicht noch ein paar Monate mit Masken, Abstandsregeln und Covid-Zertifikaten leben könnte (das kann ich!), sondern vor allem und in erster Linie, weil ich die Hoffnung hege, mit den «Massnahmen» würden endlich auch die «Massnahmengegner» von der Bildfläche verschwinden und die Querdenker ihren Stein des Anstosses und die Aufmerksamkeit des Publikums verlieren. Dass sich damit auch all die in die Netzwerke der Massnahmengegner eingesickerten antisemitischen, antikapitalistischen, antisozialistischen usw. Verschwörungstheorien und die nun auch in Frauenfeld an den Haustüren militanter Impfgegner sichtbaren Embleme der deutschen Reichsbürger-Bewegung in Luft auflösen werden, wäre zu viel verlangt. Aber die Auflösung dieser unguten Koalition aus vielen anständigen Leuten unterschiedlicher Weltanschauung mit politischen Hasardeuren aller Couleur wird vielleicht doch stattfinden. Hoffen darf man!

Herzliche Grüsse: Hannes

Dr. Hannes Steiner, Historiker / Archivar

Tierische, digitale oder menschliche Kommunikation?

Dass Kommentatoren auf (verbale) Signale reagieren, ohne sich um Intentionen und Kontexte zu kümmern, passiert fast täglich. Selten ist eine so prominente und «unverdächtige» Persönlichkeit Signalgeber, wie dies in der Fernseh-«Sternstunde» am Sonntag, 25. April der Fall war. Die NZZ (28.4.21) fasste folgendermassen zusammen:

«Adolf Muschg spricht offen und luzid, er redet von seiner Kindheit, von Versäumnissen und Erfolgen. Gegen Ende des Gesprächs kommt man auf die Cancel-Culture zu sprechen. Muschg sagt: «Nehmen Sie die Cancel-Culture, die wir heute haben. Dass man abgeschrieben wird, wenn man bestimmte Zeichen von sich gibt. Das sehen wir bei feministischen Diskursen ebenso wie bei antirassistischen. Ein falsches Wort, und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz.»

Und schon war Muschg abgestempelt. Nochmals die NZZ: «Und kaum klingt die Sendung aus, schiessen auf Twitter bereits die ersten Reaktionen ins Kraut. Muschg solle sich ‹in Grund und Boden schämen›, schreibt etwa der Schweizer Historiker Philipp Sarasin.»

Ich will hier nicht wiederholen, was Tausende von Malen wiederholt worden ist, dass Vergleiche mit der Shoa deshalb problematisch sind, weil sie zu einer Banalisierung der Verbrechen des Nationalsozialismus beitragen, was Neonazi-Tendenzen fördern kann und so weiter. Ohne Zweifel sieht auch Muschg das nicht anders. Gerade deshalb, weil man Muschg in der Öffentlichkeit relativ gut kennt, müsste man eher fragen: was hat diesen Mann getrieben, diesen drastischen Vergleich zu ziehen? Welche Erlebnisse, welche Not stecken dahinter?

Doch nachdem Muschg im bedenkenswerten Kontext seiner Ausführungen ein Signal versteckt hatte (das Wort «Auschwitz»), wird (fast) nur noch über dieses Signal und die Unzulässigkeit von dessen Verwendung debattiert. Der Kontext beziehungsweise die Intention von Muschg bleiben ausgeblendet. Das ist leider typisch für diese Art von Reaktion, die nach einem Algorithmus abzulaufen scheint: Trifft der Scanner auf ein Wort der Negativliste, ist möglichst öffentlich zur Schau getragene Entrüstung programmiert.

Wäre zu fragen, was die Entrüsteten antreibt. Es handelt sich um hoch sensibilisierte Menschen, die angetreten sind, um sich gegen soziale Ungerechtigkeiten und Rassismus und für den Schutz von Minderheiten einzusetzen – Menschen, die man als «woke» bezeichnet. Die Sensibilisierung richtet sich primär auf Sprache. Es gibt heute viele Wörter und Gendervarianten, die gewissermassen auf dem Index stehen. Wenn nun jemand ein Wort verwendet, das auf ihrem Index steht, schlagen sie zu. Als Präsident Biden sein Kabinett zusammenstellte, berief er als erster Präsident der USA eine Frau, eine Indianerin, wie die NZZ und andere Zeitungen schrieben. In den sozialen Medien wurde umgehend angeprangert, dass die NZZ das I-Wort verwendet habe. Sie hätte vermutlich schreiben müssen, dass eine Idigene berufen worden sei.

Einverstanden, im zwischenmenschlichen Verkehr geht es darum, dem anderen Menschen Respekt entgegen zu bringen. Das wird schon dem kleinen Kind beigebracht, das zunächst fremde erwachsene Menschen mit «Du» anspricht. Man bringt ihm bei, dass es korrekt ist, «Sie» zu sagen (jedenfalls dürfte das bei mir vor bald 75 Jahren noch der Fall gewesen sein). Hat das damals mein Verhältnis zu diesen Menschen verändert? Wohl kaum. Ich habe mir eine Konvention der Erwachsenen angeeignet. Ich habe gelernt, das falsche Signal «Du» zu vermeiden, das für Respektlosigkeit steht (was ich nicht wusste, ich fügte mich halt) und stattdessen das korrekte Signal «Sie» zu verwenden. Ich bin sicher nicht der Einzige mit der Erfahrung, dass es damals ein ganzes Vokabular von Wörtern gab, die man nur unter Kindern gebrauchte und in Gegenwart von Erwachsenen mied, weil man wusste, dass diese Wörter nicht korrekt sind. (Also auch damals gab es einen Index.) Es dürfte auch in Zeiten von «political correctness» so sein, dass viele Menschen über zwei Vokabulare verfügen. Wenn jemand erfolgreich inkorrekte Ausdrücke meidet, heisst das noch längst nicht, dass er (oder sie) anderen Menschen respektvoll und menschlich begegnet.

Eine sensiblere Handhabung der Sprache mag man in vielen Fällen nachvollziehen und in der eigenen Sprechweise berücksichtigen – mindestens so lange die Sprechweise vom eigenen, individuellen Bewusstsein getragen ist. Vom Bewusstsein getragen muss auch das Verstehen des Anderen sein: Was will er sagen? Was versucht er auszudrücken? Wie ist er im Zusammenhang des ganzen Gesprächs zu verstehen?

Das Reagieren auf einzelne Wörter führt vom Verstehen weg zu einem maschinell-unmenschlich anmutenden, man könnte auch sagen pawlowschen Kommunikationsmuster. Es wirkt geradezu tragisch, dass die Verfechter korrekten Sprechens, das für eine menschlichere Kultur stehen soll, tierisch bis maschinell reagieren. Mit tierisch meine ich die pawlowsche Reaktionsweise, die auf ein Signal, vom gesamten Kontext abstrahierend, reagiert. Mit maschinell meine ich das digitale Muster, das nur ja/nein, schwarz/weiss zu unterscheiden vermag. Jeder Text, auch der Gesprochene, wird gescant, oft bevor überhaupt ein Bemühen um Verständnis stattgefunden hat. Wenn der Scan ein Wort ausmacht, das auf dem Index steht, läuft ein Algorithmus ab, der zur Verteufelung des Senders des fatalen Signals führt. Wo bleibt da die menschliche Kommunikation? Ein alter, weisser Mann (wie Muschg) kann jedenfalls nicht auf einen Verständnis-Bonus hoffen, er soll sich, wie der Historiker Philipp Sarasin meint, in Grund und Boden schämen.

Woher kommt diese Kommunikationskultur oder -unkultur? Klar, aus den USA. Aber welches sind die Hintergründe?

Mit dem Hinweis auf das digitale Muster habe ich bereits einen Hinweis gemacht. Es ist spätestens seit Linné bekannt. Mit Monokotyledonen und Dikotyledonen hat die Pflanzenbestimmung jeweils angefangen. Das Ganze, die Gestalt der Pflanze, wie sie u.a. Goethe zu sehen sich bemühte, hat keine Rolle gespielt. Diesem eher philosophischen Hintergrund wäre weiter nachzugehen.
Es gibt noch eine weitere Spur: Erstmals begegnet bin ich dem richtig/falsch-Schema beim Erwerb des Führerausweises. Ich meine die Multiple Choice-Fragebogen in der theoretischen Fahrprüfung. Später arbeitete ich an der Uni selber an der Zusammenstellung von Prüfungsfragen nach dem Multiple Choice-Schema. Bei diesen Fragen gibt es nur richtig oder falsch. Das hat für die Prüfenden grosse Vorteile: die Korrektur geht schnell und kann von unqualifizierten Hilfskräften erledigt werden. Durch die eindeutige Quantifizierbarkeit der Resultate ist das Ergebnis bestanden/durchgefallen objektiv gegeben. Diskussionen (= menschliche Kommunikation) können vermieden werden. Das alles ist heute vermutlich noch viel wichtiger geworden. Eltern üben Druck auf die Lehrer (Lehrpersonen) aus, Prüfungsbewertungen müssen möglichst von der Lehrperson und ihren allfälligen Sympathien oder Antipathien abgelöst werden, sonst ist Chancengleichheit nicht gewährleistet usw. Das digitale Muster, das Richtig/falsch-Schema ist über jeden Verdacht erhaben.

Selbstverständlich ist es eine Hypothese zu behaupten, dass die Digitalprozesse, die im Hintergrund wirken – zum Beispiel, wenn ich auf dem Computer diesen Text schreibe – auf das Kommunikationsverhalten in der Gesellschaft durchschlagen. Es wäre im Detail nachzuweisen, wie die Umwandlung von der technischen zur Kommunikationsebene vor sich geht. Welchen Einfluss die Gewöhnung an Multiple Choice-Schemata und welchen Einfluss die Arbeitsblätter der Kinder, mit welchen sie von den Lehrpersonen losgeschickt werden, auf das Denken und Verhalten haben. (Nicht von den Inhalten der Arbeitblätter ist hier die Rede, sondern von der «Hidden Agenda».)

Die Folge des Algorithmus, der nur schwarz und weiss, nur ja und nein, Licht und Finsternis unterscheiden kann, ist ein Verlust der Grautöne, ein Verlust der Mitte und damit ein Verlassen der christlichen Tradition der Dreiheit. Das alles mündet in einen Verlust des Verstehens. Ein Scan weniger Merkmale reicht für die Urteilsbildung.
Es gäbe eigentlich die Methode namens Hermeneutik, die nie nur ein Wort aufspiesst, sondern dieses immer im Kontext zu verstehen versucht. Es wäre wohl notwendig, auf allen Schul- oder Entwicklungsstufen Fragestellungen zu entwickeln, die nur jeweils aus dem Verstehen des Ganzen beantwortet werden können. Also statt Linnés digitalen Bestimmungsschlüssel Goethes anschauendes Urteilen mit dem Blick auf das Ganze. So könnten wir es schaffen, wieder ein wenig Hermeneutik in die Alltagsdiskussion zu bringen. Sollte es immer öfter passieren, dass das Geifern beginnt, wenn ein (falsch klingendes) Signal ertönt, ist die Menschheit tatsächlich auf den Hund gekommen. 

Wie man Verschwörungstheoretiker wird

Mit 5 Nachträgen am Schluss des Beitrags.

Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur: Nach dem Giftgasanschlag auf einen Ex-Spion in England gilt für die meisten westlichen Regierungen Russland als Täter. Eine einigermassen plausible Indizienkette wurde bisher nicht publiziert. Der türkische Ministerpräsident Erdogan beschuldigt seinen früheren Kampfgefährten Gülen, einen Putsch gegen ihn angezettelt zu haben. Auch hier gibt es keine nachvollziehbaren Begründungen. Verheerende Folgen bis heute hatte die Behauptung der amerikanischen und britischen Regierung, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. Der angerichtete Schaden durch die Kriege seither ist immens. Immerhin wurde diese Verschwörungstheorie später entlarvt. Seit einiger Zeit sieht Viktor Orban in George Soros den Schuldigen hinter allem in Ungarn, was nicht in seinem Sinne läuft. Exakte Belege dafür sind uninteressant.

Verschwörungstheorien? Diesen vier Verschwörungstheorien ist gemeinsam, dass der Begriff Verschwörungstheorie für sie nie verwendet wird.

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