«Nazi» darf man sagen
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- Erstellt: Freitag, 05. Mai 2023 16:13
Vor vielen Jahren hörte ich ein Radio-Interview mit dem damaligen Leiter der Einrichtung des sogenannten Massnahmenvollzugs Arxhof (für straffällige junge Männer). Es war die Zeit, als sich die Betonung von Strafe zu Ausbildung / Entwicklung verschoben hatte. (Heutige Formulierung auf der Website: Der «Arxhof arbeitet mit delikt- und risikoorientierten Psychotherapiekonzepten und einem sozialtherapeutischen Milieu.») Dieser damalige Leiter betonte die Verabschiedung von einem Sanktionenregime, sagte aber, in zwei Situationen würden sie konsequent durchgreifen: wenn physische Gewalt angewendet worden sei und wenn jemand herabsetzende, abschätzige Bemerkungen gegenüber anderen mache.
Herabsetzende Bemerkungen
Herabsetzende Bemerkungen sind allerdings alltäglich. Ich denke beispielsweise an die einigermassen harmlosen, nicht sehr liebevollen «Qualifizierungen» von Autofahrern. In grösseren Städten, in denen ich eine Zeit lang gelebt habe, zielen sie auf Autofahrer aus der Nachbarschaft, die sich etwas ungeschickt verhalten. In Zürich sind es die Aargauer, in Bern die Fribourger und in Freiburg i.Br. die Emmendinger. Es gibt die Blondinen- und die Ostfriesenwitze usw. Es sind Äusserungen der Herabsetzung und damit ebenso verwerflich wie pauschalisierende Bemerkungen gegenüber bestimmten Volksgruppen, seien es nun die Deutschen (in der Schweiz), die Zürcher (in der Ostschweiz), die Türken, die Schwarzen, die Juden. Der Schweizer Rechtsaussenpolitiker Christoph Blocher war oder ist ein Meister des Herabsetzens. Es gibt weitere Bezeichnungen, die sich im öffentlichen Disput in jüngerer Zeit eingebürgert haben und der Herabsetzung dienen wie «Schwurbler». (Damit wurden beispielsweise Menschen eingedeckt, die den offiziell über alle Zweifel erhabenen Pharmaprodukten gegen die Covid-Pandemie Bedenken formulierten.) Journalisten verfügen über ein eigenes Repertoire an herabsetzenden Attributen, wenn sie einer Person die Glaubwürdigkeit entziehen wollen. Das Attribut «selbsternannt» habe ich früher einmal kommentiert.
Unabhängig davon, ob solche Bemerkungen fahrlässig oder bewusst aus Belustigung, Verachtung, Hass oder aus Provokation hervorgehen: In jedem Fall ist damit die Stelle bezeichnet, an der Rassismus, Chauvinismus oder andere Arten von Konfliktbereitschaft entsteht. (Die Ursache von Messerstechereien nach Mitternacht in den Ausgehvierteln liegen, gefördert durch Alkohol, praktisch immer hier.) Man kann von seelischen Beweggründen sprechen. (Wer das deutsche Vokabular scheut, spricht vielleicht von psycho-sozialen Dispositionen.) Ja, von Rassismus zu sprechen oder jemanden als Rassisten zu bezeichnen ist nur zu verantworten, wenn erkennbar seelischen Beweggründe vorliegen. Und hier bedarf es einiger Sorgfalt. In der Regel wird man sich nur erlauben können, jemanden als Rassisten zu bezeichnen, wenn man ein aktuelles Verhalten als eingebettet in wiederholtes entsprechendes Verhalten erkennen kann.
Verbale Ebene
Dies festzuhalten scheint mir wichtig, weil es heute ständig vorkommt, dass Menschen als Rassisten bezeichnet werden, weil sie bestimmte Wörter, die auf einem inoffiziellen Index stehen und als diskriminierend gelten, verwenden – etwa wenn jemand sagt: «Auf der Wiese am Dorfrand haben sich Zigeuner niedergelassen.» Es ist nicht berechtigt, einen Menschen aufgrund einer solchen Aussage als Rassisten zu bezeichnen.
Mit dem Thema «indexierter Wortgebrauch» gelangen wir auf eine zweite Ebene, die man oft als systemimmanenten Rassismus bezeichnet. Dieser hat verschiedene Quellen. Als Kind warf ich am Sonntag in der Sonntagsschule eine Münze in eine Figur, das Negerli, worauf dieses dankend nickte. Wir sagten den Zählreim «Zehn kleine Negerlein» auf. Systemimmanenter Rassismus kann Resultat der Sozialisation sein. Oder er ist Resultat wirtschaftlicher und politischer Interessen. Das Saisonnierstatut in der Schweiz, das «Fremdarbeiter» damals nur während begrenzten Zeiten in die Schweiz einreisen liess und ihnen den Familiennachzug verwehrte, muss letztlich als strukturell rassistisch bezeichnet werden, was allerdings nicht dazu führen kann, den einzelnen Arbeitgeber, der solche Ausländer beschäftigte, als Rassisten zu bezeichnen. Die christliche Entwicklungshilfe war sozusagen die Fortsetzung der Negerli-Konstellation, praktiziert nicht nur aus einer Haltung der Nächstenliebe, sondern auch der Superiorität und des Paternalismus. Das Wort Entwicklungshilfe wurde durch den Begriff «Technische Zusammenarbeit» ersetzt. Dies ist ein typischer Vorgang der «Problemlösung». Korrekturen werden auf der verbalen Ebene vorgenommen. Fremdarbeiter wurden zu Gastarbeitern. Geistigbehinderte wurden zu Menschen mit Unterstützungsbedarf usw. (in anthroposophischer Diktion wurden sie von Anfang an als «seelenpflegebedürftig» bezeichnet). Es handelte sich also nicht zwingend darum (seelische) Haltungen zu verändern, sondern sich verbal anzupassen. Es kam die Zeit der Kommunikationsberater, die dafür zu sorgen begannen, dass Unebenheiten, Ecken und Kanten in Veröffentlichungen von Unternehmen und Amtsstellen verschwanden. Sie trainierten die Verantwortlichen mit dem Ziel, ihnen ein positives Kommunikationsverhalten anzugewöhnen. Probleme verschwanden. Sie verwandelten sich in Herausforderungen. Allzu oft wird aber gar nicht mehr kommuniziert, sondern nur noch auf laufende Verfahren oder auf Persönlichkeitsschutz hingewiesen, um dann nichts zu sagen. Allzu gross ist die Gefahr, dem moralischen Gebot des Schutzes des Individuums zuwiderzuhandeln.
Kontext
Diesen Beitrag schreibe ich aus Anlass eines Eklats an einer Migrationskonferenz in Frankfurt, der mit dem Namen des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer verknüpft ist. Im NZZ-Kommentar (3.5.2023) ist zu lesen: «Die Direktorin des Islam-Instituts, die Ethnologin Susanne Schröter, berichtet, dass die Tagung von einer ‹wahnsinnigen Hetzkampagne› begleitet worden sei. Von Anfang an hätten Studenten und manche Kollegen die Veranstaltung als ‹populistische Pseudowissenschaft› geschmäht und die Teilnehmer als Nazis beschimpft. ‹Nazis, Nazis!›, skandierten auch die Demonstranten vor dem Tagungsort.» Nun ist Boris Palmer in keiner Weise ein Politiker, der einen Kommunikationsberater konsultiert, bevor er den Mund öffnet oder eine PR-Agentur beizieht, bevor er eine Entscheidung fällt. Die Meinungen der eigenen Partei nahm er wohl zur Kenntnis, war aber weit davon entfernt, sich sklavisch daran zu halten. Der Unterschied zwischen der Gesinnungsethik der Partei und anderer Moralisten und der Verantwortungsethik des Exekutivpolitikers wurden ihm schmerzlich bewusst. Er äusserte sich einerseits kritisch gegenüber der Einwanderungspolitik Angela Merkels, während er andererseits in Tübingen Flüchtlingen Infrastrukturen schuf, die von anderen Städten zum Vorbild genommen werden könnten. Die NZZ fährt in ihrem Kommentar fort: «In diese explosive Stimmung stapfte dann der Grünen-Politiker Boris Palmer. Eine weniger leicht entflammbare Persönlichkeit als er hätte die Studenten draussen zetern lassen und drinnen im Saal den Vortrag über die konkreten Anstrengungen der Stadt Tübingen, Flüchtlinge anständig zu behandeln, gehalten.» Das tragische (vorläufige) Ende: Palmer tritt aus der Partei Die Grünen aus «Vor der Bekanntgabe seines Rücktritts gab Palmer eine persönliche Erklärung ab. ‹So geht es nicht weiter. Die wiederkehrenden Stürme der Empörung kann ich meiner Familie, meinen Freunden und Unterstützern, den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und der Stadtgesellschaft insgesamt nicht mehr zumuten›, schrieb er. Als Oberbürgermeister hätte er ‹niemals so reden dürfen›. Dass der Eindruck entstanden sei, er relativiere den Holocaust, tue ihm ‹unsagbar leid›. Palmer schrieb weiter, er werde sich ‹professionelle Hilfe› suchen und ‹neue Mechanismen der Selbstkontrolle› erlernen. Außerdem wolle er sich bei den Menschen entschuldigen, die er enttäuscht habe.» (Focus online, 2.5.2023). Das ist wohl eine richtige Folgerung. Nur: Eigentlich haben wir bereits viel zu viele öffentliche Personen, abgeschliffen wie Felsbrocken in einer Gletschermühle, die vor lauter Selbstkontrolle kaum mehr zu fassen sind.
Judenstern: Symbol der Stigmatisierung
Focus: «Die darauf folgenden ‹Nazi raus›-Rufe verglich Palmer mit dem Tragen des Judensterns im Dritten Reich.» Diese Äusserung rief nun auch noch Vertreter jüdischer Organisationen auf den Plan. Ihr Befund «Relativierung des Holocaust».
Mit dem Judenstern wurde eine Bevölkerungsgruppe stigmatisiert. «Der Judenstempel [im Pass] diente der von den deutschen Behörden im Oktober 1938 nach Verhandlungen mit der Schweiz in diskriminierender Absicht eingeführten Markierung der Pässe von deutschen Juden.» (Marco Jorio im Historischen Lexikon der Schweiz) Der Judenstern beziehungsweise das eingestempelte «J» in den Pässen vereinfachten den Schweizer Behörden die Grenzkontrolle und die Rückweisung jüdischer Flüchtlinge. Mit dem Holocaust, d.h. der massenhaften Ermordung von Menschen, hatte der Judenstern zunächst nichts zu tun. Der Vorgang der Stigmatisierung ist keineswegs einmalig und spielt beispielsweise bei jedem Mobbing eine Rolle. Stigmatisierung ist eine Problemstellung für Psychologie und Soziologie. Als solche müssen alle derartigen Prozesse untersucht und verglichen werden können. Wer Vergleichen generell verhindert und an dieser Stelle Relativierung des Holocaust moniert, bewirkt genau das Gegenteil dessen, was nottut. Wo massenhaft Anzeichen einer Stigmatisierung auftreten, werden Gefahren sichtbar, wie sie schliesslich zum Holocaust geführt haben und auch erneut zu solchen Geschehnissen führen könnten. Mitschuldig wären heute ausgerechnet die Moralisten, die bei jedem geringsten Verdacht der Diskriminierung gnadenlos und äusserst selbstgerecht zuschlagen.
Ich kann deshalb die Feststellung von Boris Palmer, dass der u.a. an ihn gerichtete Ruf «Nazi raus» eine Stigmatisierung bedeutet, die dem Judenstempel oder dem Anheften des Judensterns vergleichbar ist, absolut teilen. (Eine ganz andere Frage ist die Opportunität, eine solche Bemerkung überhaupt zu machen.) Dass die jüdischen Organisationen ihre Kritik allein an Palmer richten und die Nazi-Rufe unkritisiert lassen, ist sehr befremdlich und dürfte den Juden eher schaden als nützen.
«Während die Empörung über Palmer also über alle politischen Grenzen hinweg einhellig war, wurden die vorausgegangenen Beschimpfungen nicht beanstandet. Das entspricht einem generellen Trend, nach dem die Relativierung nicht per se problematisch ist, sondern vom dahinterstehenden Motiv abhängt. Wer auf der richtigen Seite steht, darf es recht frei einsetzen. Die Empörung setzt erst ein, wenn die Falschen einen absurden historischen Bezug herstellen. Genau das ist im Falle Boris Palmers passiert. Eigentlich trafen in Frankfurt zwei Seiten aufeinander, die sich beide ‹Nazi!› – ‹Selber Nazi!› an den Kopf warfen, während das medial aber nur einer Seite übelgenommen wurde.» (Cicero 3.5.2023)
Die Nazi-Brüller-Szene ist allzu rüpelhaft, als dass man sich mit ihr solidarisieren möchte, selbst wenn man der jeweiligen Kritik gegenüber sympathisiert. Es gibt daneben aber auch viel vornehmere, gewissermassen intellektuell salonfähige Varianten der Stigmatisierung. Sie bezeichnen jemanden nicht als Rassisten, sondern stellen beispielsweise fest, in seinem Werk verwende der Autor häufig rassistische Formulierungen. Für die feinsinnigere Elite der Leser ist damit der Fall auch ohne Nazi-Gebrüll klar.
Holocaust-Instrumentalisierung
Das erwähnte Urteil der «Relativierung des Holocaust» gehört zu den Standardreaktionen der Politik ebenso zur Verteidigung der jeweils eigenen Deutungshoheit, wie der Vorwurf des Antisemitismus, auch da, wo es um die Erhellung von problematischen sozialen und politischen Vorgängen geht. Der Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialsozialisten ist einmalig, nicht aber die Sozialdynamiken, die dazu führten, dass mit Ausnahmen ein ganzes Volk dabei stumm blieb. Deutsche jüdische Organisationen sind heute mit Urteilen offenbar besonders schnell zur Hand. Als Daniele Ganser im März 2023 im Volkshaus Zürich auftrat, publizierte die Wochenzeitung (WOZ) am 30. März einen Artikel und interessierte sich u.a. dafür, ob Ganser Antisemit sei. Sie fand heraus: «‹Die Betriebskommission [des Volkshauses] hat beim israelitischen Gemeindebund nachgefragt, ob er Ganser und seine Theorien als antisemitisch erachtet. Er hat dem Volkshaus mitgeteilt, er habe bisher keine antisemitischen Vorfälle bei Ganser registriert.› Diese Einschätzung teilen nicht alle: In Hannover etwa warnte die Liberale Jüdische Gemeinde vor der Ganser-Veranstaltung, ‹denn krude Verschwörungserzählungen, die häufig in antisemitischen Sprachbildern enden, sind keine Grundlage für eine gesunde Debattenkultur, sondern schlichtweg nicht zu akzeptieren›.»