Funktional differenzierende Gesellschaftsgestaltung

Hinter dem politischen Handeln und noch viel eher hinter Parteiprogrammen stecken Ideen mit langer Tradition. Mit den Ideen sind Heilsversprechen verbunden. Jede und jeder kann bei sich selbst beobachten, womit sie oder er positive Erwartungen oder Skepsis verbindet: Sind es beispielsweise das Vertrauen zum Staat und zu zentralen Lösungen oder Hoffnungen, die sich mit «Privatinitiative» und Liberalisierung verbindet? «Der Markt soll’s regeln» versus «der Staat sorgt gerecht für alle». Föderalismus, was eher nach Volksnähe klingt, gelegentlich aber mit «Flickenteppich» kritisiert wird oder zentrale Lö-sungen, die Einheitlichkeit und Gerechtigkeit versprechen und oft mit Bürokratie einhergehen?

Bei den gesellschaftsgestalterischen Ideen in dieser Blog-Spalte kommt den Individuen in der Gesellschaft eine entscheidende Rolle zu. Soweit dies einzelne eher gouvernemental eingestellte Freunde mit Vorbehalten zur Kenntnis nehmen, zähle ich (aus Erfahrung) doch darauf, dass jedes Individuum für sich selber durchaus einen erheblichen Freiheitsraum selbstverständlich beansprucht und dementsprechend auch für die Freiheitsräume anderer Verständnis aufbringen wird. Auf der anderen Seite haben auch Menschen, bei denen «Eigenverantwortung» ganz oben im Vokabular steht, in der Regel wenig gegen ein weitgehend staatlich gestütztes Sport-, Konzert-, Gesundheitswesen oder Vorsorgesystem einzuwenden, auch wenn sie sonst für «weniger Staat» plädieren. Dieser Blog mutet Leserinnen und Lesern zu, dass sie innerhalb dieser gegensätzlichen Positionen Bereitschaft für gedankliches Experimentieren aufbringen.

Einer, der im freien Menschen ein riesiges Potential sah, dies in seiner «Philosophie der Freiheit» begründete und sich für Max Stirner («Der Einzige und sein Eigentum») begeisterte und von Zeitgenossen unter anderem deshalb als Anarchist angesehen wurde, war Rudolf Steiner, genauer: der Rudolf Steiner der 1880er Jahre. Seine gesellschaftsbezogenen Gedanken entwickelte und formulierte er zwar weiter, konnte damit aber bei seiner meist theosophischen Klientel jener Zeit kein Interesse finden. Nach dem Ersten Weltkrieg befasste er sich mit notwendigen Veränderungen, die weder an die eine noch die andere der oben angedeuteten Traditionen anknüpfte. Stattdessen hatte er den Blick auf die kulturelle Problematik europäischer Vielvölkerstaaten gerichtet, während er sich mitten in die zu der Zeit virulent gewordene Rätebewegungen in Deutschland stellte. Bekannt geworden ist seine Idee unter dem Namen «Dreigliederung des sozialen Organismus». Deren zentrales Merkmal ist eine funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Lebensbereiche:

Als geistig und kulturell Tätiger beansprucht der Mensch Freiheit. Entsprechend ist das Geistesleben zu organisieren. Als Wesen, das Nahrung, Kleidung und Obdach braucht, ist der Mensch auf eine effizient funktionierende, bedürfnisorientierte Wirtschaft angewiesen. Damit sowohl die Bedürfnisse der Leistungsempfänger als auch die Möglichkeiten der Leistungserbringer in die Leistungsgestaltung einfliessen können, sind «assoziative» Strukturen und Prozesse auszubilden, die partizipative Möglichkeiten auch in der Wirtschaft schaffen. Der demokratisch organisierte Rechtsbereich (Staat) muss für Gleichheit sorgen, Gleichheit vor dem Recht, aber auch Gleichheit im materiellen Sinn durch Vorbeugung von Ausbeutung und Machtballungen zum Beispiel durch Kapital oder Bodeneigentum. Diese «Dreigliederung» hat ihre Vorläufer und «Verwandten». An sie klingt an, wenn Politikwissenschafter von drei Revolutionen der Moderne sprechen, die «‹politische Revolution› der Demokratie, die ‹ökonomische Revolution› des Kapitalismus und die ‹kulturelle Revolution› des Individualismus für den Menschen, für seine Existenz, für seine Freiheit und seine Lebensführung». (vgl. Christian Marty, NZZ 7.4.21) Dass die territorialen politischen Grenzen dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben im Weg stehen oder für dieses einfach irrelevant sind, zeigen die unzähligen Organisationen (Zweckverbünde), welche heute überall Grenzen überschreiten, von Infrastrukturprojekten bis zur Forschung, wie dies der der Ökonom Bruno S. Frey aufgezeigt hat (siehe dazu mein Buch «Eintopf und Eliten») – ganz zu schweigen von den grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen weltweiter Arbeitsteiligkeit.

Damit sind Bereiche und Differenzierungen angedeutet, die in Steiners Idee der Dreigliederung eingeflossen sind. Bekanntlich konnte sich die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland der 1920er Jahre nicht von den alten nationalstaatlichen Konzepten lösen. Das nationalsozialistische Verhängnis blieb möglich. Und die Gliederungsidee blieb Idee. Es waren nur kleine Gruppen, die sich weiter damit beschäftigten. Es war wohl die «Diaspora-Situation», die die Tendenz verstärkte, «Dreigliederung» oder «assoziative Wirtschaft» als Patentlösung anzusehen, als mögliche Erlösung von dem Übel kleinerer und grösserer gesell-schaftlicher Katastrophen – nach der Devise: Dreigliederung einführen, und dann wird alles gut! Wer so denkt, hat Steiner missverstanden. Er schlägt keine Lösung für «bessere» Strukturen vor, die soziale Probleme fast von selbst lösen würden. Er setzte sich für die Modellierung von Prozessen, für den Umgang mit antinomischen Kräften beziehungsweise Polaritäten ein. Selbstverwaltung ist dabei ein zentrales Mittel: Selbstverwaltung von Kultur- und Bildungseinrichtungen («Kulturräte»), Selbstverwaltung der Wirtschaft in Assoziationen, in welchen nicht das Kapital (wie heute), sondern die aktive Beteiligung am Wertschöpfungsprozess bis hin zum Konsum die Legitimation für die Mitwirkung schaffen. Und zwischen Kultur und Wirtschaft braucht es den demokratisch funktionierenden Rechtsbereich, der die Menschen schützt, indem er die rechtlichen Rahmenbedingungen für beide Bereiche entwickelt.

Die Notwendigkeit der Differenzierung folgt der einfachen Einsicht, dass – in einer Analogie ausgedrückt – Kopfweh und Bauchweh nicht mit demselben Medikament behandelt werden können. Entsprechend kann das Organisationskonzept für Polizei und Armee (Hierarchie) nicht einfach auch das Organisationskonzept für Schule und Universität sein.

«Dreigliederung» ist zwar ein einfacher Gedanke – dies erscheint wenigstens so, solange man nicht zu nah herangeht um zu entdecken, in welcher Komplexität sich die verschiedenen gesellschaftlichen Prozesse durchdringen. (In der Analogie: Auch im Bauch gibt es Nerven, sonst könnte es kein Bauchweh geben. Auch im Kopf gibt es Stoffwechsel bezie-hungsweise Durchblutung, sonst wären wir gleich tot.)

Und was die Dreigliederung besonders anspruchsvoll macht, ist ihr stetiges Bemühen um «Demokratisierung», genauer: um Involvierung Betroffener und Beteiligter («Selbstverwaltung», «Basisdemokratie»). Wir Individuen sind als Einzelne oder im Verbund die Gestalter der Gesellschaft. Das Zeitalter einer katholischen Kirche, die den Katechismus vorgibt oder jüdischer und islamischer Geistlicher, die verbindliche Ernährungs-, Bekleidungs- und Verhaltensregeln diktieren, ist definitiv vorbei. In Glaubenssachen hat die Aufklärung schon einmal recht gründlich gewirkt. In sozialer Beziehung ist der Glaube nicht ver-schwunden, Hierarchie (Staat) könne das grösstmögliche Heil garantieren, weil sie (die Hierarchie) in Sachen Vernunft alle Individuen zu übertrumpfen vermag. Hier hat das Zeitalter der Aufklä-rung noch Nachholbedarf.

In dieser Blog-Rubrik möchte ich anhand von kleinen, manchmal ganz banal wirkenden «Fallstudien» sichtbar machen, wie funktionale Differenzierung und Einbezug in konkreten Situationen wirken kann. In jedem Fall geht es darum, (alternative) Handlungsoptionen aufzuzeigen.

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