Wirtschaft ist langfristig – Gauner sind schnell

Die beiden folgenden Texte wurden 2012 publiziert, derjenige von Peter von Matt (Professor für Germanistik) in Buchform («Das Kalb vor der Gotthardpost»), derjenige von Claude Bébéar (Gründer des Axa-Versicherungskonzerns) in Interviewform in der NZZ am Sonntag.

Peter von Matt

Peter von Matts Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen. Der erste in dieser Sammlung ist betitelt mit «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation.» von Matt knüpft an das Bild des Alpenlandes von Albrecht von Haller an, der dem Alpenvolk einen überhöhenden Nimbus des Ursprünglichkeit, Gesundheit und Unversehrtheit zukommen liess. Dessen Tradition sieht von Matt in einem rückwärtsgewandten Isolationismus wieder aufscheinen. Demgegenüber beschreibt er die Beschleunigung, wie sie ein Alfred Escher hereingebracht hat (für welchen das Gotthard-Post-Bild gemalt worden war). Gottfried Keller beschreibt er als Schriftsteller, der das Dilemma erlebte und seine Seldwyla-Geschichten dafür einsetzte, die widerstrebenden Entwicklungen zu beschreiben – etwa das Fällen zahlloser Eichen nördlich von Zürich, weil man deren Holz für den Eisenbahnbau brauchte (technischer Fortschritt gegen Leben). Die folgende Passage knüpft an die Darstellung der erwähnten Strömungen an.

«Faktisch werden in der Schweiz heute zwei verschiedene politische Sprachen gesprochen. Eine produktive Kommunikation zwischen den beiden Positionen ist nahezu unmöglich, weil die um Begründungen und Argumente bemühte Rede sich einer rein behauptenden, dogmatisch geprägten Diktion gegenübersieht. Das ist nicht ungefährlich; denn wenn die politische Kommunikation ernsthaft gestört ist, wächst die Gefahr der Gewalt. In der Welt der Politik wird die Gewalt nur durch den freien Meinungsaustausch auf der Basis gemeinsam anerkannter Grundbegriffe verhindert. Bröckelt diese Basis, stirbt der Dialog ab. An seine Stelle tritt Lärm. Dieser muss nicht zu Gewalt führen, aber er ist, wo sie sich denn einmal regt, nicht nur nutzlos, sondern kann sogar als Brandbeschleuniger wirken.

Die beiden politischen Sprachen unterscheiden sich voneinander genau so, wie das Phantasiebild eines naturhaften Ursprungs in der abgerückten Natur sich unterscheidet von der Wirklichkeit einer extrem beschleunigten technischen Zivilisation mit ihrer weltweit operierenden Wirtschaft und einem unberechenbaren, jeder einzelstaatlichen Kontrolle enthobenen Finanz- und Bankensystem. Dieses trägt in seinen bizarren Abläufen wahnhafte Züge und ist, was die Plötzlichkeit und fatale Wirkung seiner Aktionen betrifft, mit dem Verhalten eines freilaufenden Geistesgestörten vergleichbar. Das zeigt sich an so absurden, eigentlich kindischen Tatsachen wie der, dass ein Funktionär, der in diesem System die Spitze der Karriereleiter erreicht, sich selbst Dutzende von Millionen im Jahr ausbezahlen lässt, seien es Dollar oder Euro oder Franken, Summen, die im Leben eines Einzelnen völlig sinnlos sind und an infantile Denkbilder wie den Gold scheissenden Esel erinnern.»

Ich komme nicht umhin, an dieser Stelle an den langjährigen CS-VR-Präsidenten Urs Rohner zu denken, der allein mit seinem CS-VR-Vorsitz 40 Millionen Franken verdiente (daneben dürfte er da und dort noch ein Trinkgeld erhalten haben). Nun hatte Rohner ein Problem zu lösen: Als Vermögender, der nicht auf eine Pensionskassenrente angewiesen ist, will er sich sein Pensionskassenguthaben auszahlen lassen. Das wäre im Kanton Schwyz einige zehn- oder hunderttausend oder gar Millionen Franken günstiger als an seinem Wohnort am rechten Zürichseeufer. Also nahm er sich eine Wohnung auf der anderen Zürichsee-Seite. Und weil das nicht zu sehr nach Steuervermeidung aussehen soll, liess er um sein Haus ein Gerüst errichten und schickte Handwerker ins Haus, um dieses etwas umzubauen. – Für wen nimmt man all die Mühe auf sich, wenn man während des Rests seines Lebens sowieso nicht das ganze Geld verbrauchen kann, das man auch ohne Pensionskassenguthaben hat? Ich denke, dass irgendwo ein Automatismus einsetzt (von Matt schreibt von infantilen Bildern): Es geht nicht mehr um Geld, das man braucht. Es geht nur noch darum zu vermeiden, dass jemand anderem – und sei es dem Staat – Geld zukommt, das man selber einstecken könnte.

Claude Bébéar

Am 8. Januar 2012 publizierte die NZZ am Sonntag ein Interview von Charlotte Jacquemart, einer Journalistin, die ich sehr schätze, mit Claude Bébéar, dem Gründer des Axa-Versicherungskonzerns. Auch hier geht der Blick zurück auf die Finanzkrise. Das Interview knüpft an Bébéars 2003 erschienenes Buch «Ils vont tuer le capitalisme» an. Während beispielsweise der Hochfrequenz-Börsenhandel zur Zeit seiner Lancierung da und dort kritisch kommentiert wurde, gehört diese Spielart des Börsenhandels heute ebenso selbstverständlich wie strukturierte Produkte zum Finanzgeschäft. Was technisch möglich ist, ist erlaubt. Bébéar kritisiert Schnelligkeit und Kurzfristigkeit in verschiedener Beziehung. Hier ist es wieder, das Thema, das von Gottfried Keller behandelt wurde – 150 Jahre nach dem Börsenkrach von Wien. (Auszüge aus dem Interview:)

«Die Kurzfristige Spekulation ist … angekurbelt worden. Diese widerspricht aber der Natur des Wirtschaftens, die langfristig angelegt ist. Wenn ich als Unternehmer eine grosse Investition tätige, tue ich das mit einem Horizont von mehreren Jahren. … Entscheidungen mit langfristigem Charakter werden durch die kurzfristige Sicht der Kapitalmärkte erschwert. Diese Quartalsberichterstattungen, die heute die Märkte regieren, sagen nichts darüber aus, wie es einer Firma geht. Sie sind komplett unsinnig. Firmen sollten sich der Quartalsberichterstattung verweigern, doch die grosse Mehrheit lässt sich davon terrorisieren. … Das Problem ist, dass wir heute an den Börsen sekundenschnelle Preisstellungen haben. Vor 20 Jahren geschah das einmal am Tag. Wissen Sie, wem das dient? Den Spekulanten, die mit Transaktionen innerhalb von Sekunden Geld machen. Es gibt keinen ökonomischen Gegenwert dafür. Der Handel in Nanosekunden gehört verboten. Dasselbe gilt für Leerverkäufe, bei denen Sie Aktien verkaufen, die Sie gar nicht haben. … : Spekulanten setzen Gerüchte in die Welt, diese bringen Aktien für kurze Zeit unter Druck, und schon streichen die Brandstifter fette Gewinne ein. Ich habe das mit Axa selbst erlebt. … Marktbewertungen in der Buchhaltung sind eine Katastrophe. Sie sind völlig ungeeignet, weil sie nichts mit der wirtschaftlichen Realität zu tun haben. Auch da hat der Regulator versagt. Wieso? Weil Börsenkurse noch nie den wahren Wert einer Firma wiedergegeben haben. Die Börse ist nur ein Handelsplatz, wo der eine etwas kaufen, der andere etwas verkaufen will. Da kommt ein Preis zustande. Der Wert einer Firma liegt viel höher! … Die Märkte sind … nicht effizient. Oder können Sie mir erklären, wieso Aktien heute im Verlaufe eines Tages 10 Prozent schwanken, ohne dass sich fundamental etwas an der Firma verändert hat? Sie sehen: Die Börse hat mit der Realität nichts zu tun. Wenn ich Axa als Beispiel nehmen darf: Die Börse hat sich – systematisch – bei jeder Transaktion, die wir angekündigt haben, geirrt. Immer. Ich habe mich stets darum foutiert. Weil ich wusste: Langfristig mach ich das Richtige. Die Börsen haben keine Visionen, sie täuschen sich, sind ineffizient. … Ziel der Firmen muss es sein, treue Aktionäre zu haben. Also muss man Anreize dafür schaffen. Indem das Stimmrecht an eine bestimmte Haltedauer der Aktie gebunden wird. Oder man gibt jenen, die länger dabei sind, mehr Stimmen als dem, der die Aktie vor acht Tagen gekauft hat. Zweitens: Wer mir treu bleibt, dem zahl ich mehr Dividende. In Frankreich darf ich das bereits. Aber in lächerlichem Ausmass: Wer eine Aktie länger als zwei Jahre hält, dem darf ich 10 Prozent mehr Dividende ausschütten. Man sollte drei-, viermal so viel auszahlen dürfen an jene, die Aktien lange halten! Schauen Sie, was mit Pensionskassen passiert ist: Vor zehn Jahren hielten diese Aktien im Schnitt 7 Jahre - heute sind es 7 Monate! Wieso? Es gibt Leute, die verdienen, wenn vielgehandelt wird. Wenn ich der Pensionskasse dreimal so viel Dividende zahlen kann, überlegt sie zweimal, ob sie verkaufen soll. Vor allem muss sie den Verkauf besser erklären. … Viele Patrons, die ihre Banken in den letzten Jahren miserabel geführt haben, haben gleichzeitig unanständig viel verdient. Das muss verboten sein. Hohe Löhne müssen in einer Firma grundsätzlich gut begründet werden. Verstehen Mitarbeiter nicht, wieso Chefs viel verdienen, wird die Loyalität der Mitarbeiter untergraben. Wer nicht loyal ist, ist auch nicht motiviert. Das schadet der Firma massiv.»

Die Verbindung zum Leben verloren

Es geht um Geld. Wozu brauchen wir Geld? Geld ist zunächst und auch historisch als erstes der Begleiter von Warenflüssen. (Begleiter ist nicht ganz richtig, da Geld- und Warenfluss in entgegengesetzter Richtung laufen.)

Und es geht um Kapital. Wie entsteht es, wozu ist es notwendig? Zunächst wichtig war das Handelskapital, wie es die oberitalienischen Handelshäuser aufbauten. Es diente der Investition in Handelsunternehmungen, in Schiffe und Waren, die auch immer wieder einmal verloren gingen – und daneben einem prunkvollen Lebenswandel und der Kunst. Das Handelskapital nährte sich aus der Marge zwischen An- und Verkauf. Dann setzte die Industrialisierung ein. Nun wurde Kapital gebraucht, um Maschinen zu beschaffen, die auf ungeahnt produktive Weise Waren erzeugten. Die ersten Webstühle waren gleich viermal produktiver als Handweber. Man kann auch hier von der Kapitalbildung auf der Basis der Marge oder aufgrund unterbezahlter Arbeit sprechen. Das ist keine ausreichende Beschreibung. Es sind primär Erfinder- und Organisationsgeist, die Kapitalbildung ermöglichen. (Arbeit: selbst wenn die Arbeiterin für ihren Abnehmer täglich mehrere Stunden gratis gearbeitet hätte, wäre sie nie auf die Produktivität gekommen, die die Erfindung des mechanischen Webstuhls möglich machte.)

Einerseits ging die Industrialisierung mit einem Überschuss an Kapital einher, andererseits bedurfte sie der Kapitalzufuhr, um die produktiven Anlagen zu finanzieren. Es brauchte Leihkapital. Wie wir aus der vergangenen Vollgelddiskussion erinnern, haben Banken die Möglichkeit, Kredit «aus dem Nichts» zu schöpfen. Sie eröffnen dem Kunden eine Kreditlinie. Dieser bezieht davon zumindest einen Teil und investiert sie in eine Maschine. Was nun folgt, ist interessant: Die Maschine altert. In der Buchhaltung wird sie allmählich abgeschrieben. (Meist läuft sie noch, wenn sie ganz abgeschrieben ist. Dann bildet sie eine «stille Reserve».) Im Verlauf der Abschreibung zahlt die Unternehmung den Bankkredit zurück. Nun entsteht die für das kapitalistische Geldsystem charakteristische, aber absurde Situation, dass die Maschine, die mit dem Geld beschafft worden ist, mittlerweile ziemlich altersschwach dasteht, während das Geld, mit dem sie gekauft worden war, munter in die Bank zurückgekehrt ist, frisch wie zuvor und bereit zu neuen Taten.

Das kann man «Emanzipation» des Kapitals vom Leben nennen. Das färbt auf das ganze System ab, wie wir wissen beziehungsweise erfahren haben: Leben und Kapital sind zweierlei Dinge. Tragischerweise ist es so, dass der permanent entstehende Kapitalüberfluss das Leben stört oder gar zerstört. (Das überfliessende Kapital staut sich u.a. auch im Boden. Die Familie meiner Eltern zahlte zehn Prozent des Einkommens als Miete. Heute sind bei tieferen Einkommen über dreissig Prozent üblich. Das investierte Kapital will entschädigt sein beziehungsweise muss Rente zahlen – siehe unten.)

Ein kleines Stück weit wird der Kapitalüberfluss durch Steuern und durch Inflation gemildert. Die Steuern fliessen in Kriege, in Kunst oder Schmuck. Es wird in Boden angelegt oder in Rohstoffquellen, die nicht sogleich in neue Produktivität münden. Diese Kapitalvernichtung reicht aber bei weitem nicht aus, die Stauphänomene zu beseitigen. Die Vermögensverwaltung ist der blühendste Zweig des Bankgeschäfts.

An dieser Stelle ist verankert, was wir Kapitalismus nennen. Dieser Begriff wird zwar sehr häufig und vor allem kritisch verwendet. Der Begriff bleibt eigentlich immer diffus, nicht zuletzt auch bei jenen, welche ihn überwinden wollen. (Klar, wenn man nicht so genau sagen kann, was man überwinden will, wird man das auch nicht überwinden.) Kapitalismus ist das System, das es erlaubt, mit Geld Geld zu verdienen, genauer: das System, das erlaubt, eine möglichst nie endende Rente zu generieren. Zentrales Merkmal der Rente ist die Leistungslosigkeit.

Nichterwerbsfähige Menschen in unserer Gesellschaft (alte Menschen, Kinder, Menschen mit Behinderung) erhalten aufgrund von Gesetzen eine Rente. Dies entspricht dem sozialen Willen der Gesellschaft. Die kapitalistische Rente konstruiert man sich selber, wenn man das letztlich aus der Produktivität stammende und sich ansammelnde Geld nicht zum allmählichen Verzehr, sondern zur Generierung eines leistungslosen Einkommens anlegt. Einst besuchte ich einen alten Friedhof in Deutschland. Da stand auf vielen Gräbern als Berufs- oder Standesbezeichnung «Rentier». Rentiers leben vom Ertrag ihres Vermögens, nicht von einem Ruhegehalt.

Eine moderne Form von Rente basiert auf dem Plattformkapitalismus. Hier wird besonders deutlich, was ich oben beschrieb, dass «Erfinder- und Organisationsgeist, die Kapitalbildung ermöglichen»: Jemand entwickelt ein elektronisches Tool, das mir gewisse Abläufe des Lebens erleichtern, was ich mir ein paar Franken pro Monat kosten lasse – und schon fliesst das Geld, die Rente, ohne dass der Urheber noch viel zu leisten hätte.

Mit der Kapitalbildung ist eine Art «Emanzipation vom Leben» verbunden. Banken sind, mindestens zum Teil, vom Leben emanzipierte Institutionen. Zu einem Teil erbringen sie für das Leben wichtige Dienstleistungen im Zahlungsverkehr und in der Finanzierung realer Vorhaben. «Emanzipation» findet da statt, wo sie mit Vermögen umgehen, bei denen Eigentümer und Objekt des Eigentums keine Beziehung zueinander mehr haben. Solche Eigentumstitel ohne inneren Bezug (v.a. Aktien) werden wie beliebige Waren getauscht. Geld wird in solche Titel zur mittelfristigen Gewinnmaximierung angelegt. Daran ändern auch sogenannte ESG-Kriterien (Ecological, Social, Governance) nicht viel. Diese dienen eher der Beruhigung.

Wenn die Verbindung zum Leben einmal durchgetrennt ist, dann ist es naheliegend, dass Masslosigkeit durchbricht. Im Laufe der letzten Jahrzehnte gab es mehrere sehr grosse Beispiele für diese Entwicklung. Nach jedem Ereignis entwickelte der Staat neue Gesetze und Richtlinien, mit denen solche Entwicklungen verhindert werden sollten.
Das ursprüngliche Problem wird dadurch nicht behoben: das «Wuchern» des Geldes. Solange alle Produktionsmittel, die mit Geld finanziert werden, altern und allenfalls zerfallen, das Geld aber munter weiterlebt und sich vermehrt, werden sich Menschen dieser Kapitalmassen hilfsbereit annehmen und Dinge damit treiben, die ihnen gefallen und etwas bringen.

Schwer erklärbar ist, weshalb die Behörden, die das Wohlverhalten der Finanzinstitutionen zu überwachen haben, jahrelang keinen Finger gerührt haben. So berichtet beispielsweise Infosperber seit sieben Jahren über die kriminellen Finanzierungspraktiken der CS in Mosambik. Für den Thurgauer schiebt sich das eine Bild über das andere: Jahrelanges Nichtstun im Tierquälereifall Hefenhofen, dann ein derart dilettantisches Intervenieren, dass der Beschuldigte weitgehend freigesprochen werden musste. Im Fall CS ebenso jahrelanges Nichtstun. Nun eine überstürzte Intervention. Ob man auch diese als dilettantisch wird bezeichnen müssen, wird sich erst zeigen.

Die Realität als Modell einer kooperativen Wirtschaft

Auf Anmerkungen wird im Text mit einer Ziffer in Klammern hingewiesen. Sie sind am Ende des Textes aufgeführt. 

Abgesehen von der Gemeingüter-Thematik ist Kooperation in der Wirtschaft alltägliche Realität und dennoch kein zentraler Begriff der Wirtschaftswissenschaften. Nach wie vor ist «Markt» der dominante Begriff von Wirtschaftstheorie und -politik. Namentlich in der europäischen Wirtschaftspolitik werden wichtige Akteure gezwungen, sich dem Verhaltensschema der Markttheorie anzupassen. Staaten dürfen sich an wirtschaftliche Unternehmen nicht beteiligen und solche Unternehmen oder Branchen nicht unterstützen – das würde zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Gleichzeitig tendieren Unternehmen in der Regel zu Konkurrenzvermeidung z.B. durch «Alleinstellung» – oder sie suchen Kooperationen. Unter den Stichwörtern «Punkt» und «Linie» will ich zunächst die Idee des Marktes und die Wirkungsweise der in der Wirtschaft vermutlich dominanten Form der Wertschöpfungskette aufzeigen. In der Wirklichkeit gibt es zahlreiche Überschneidungen und Vermischungen. Schliesslich möchte ich die Weiterentwicklung des Ansatzes der Wertschöpfungskette aufzeigen, wie sie unter dem Begriff der «Assoziation» bekannt geworden ist.

Markt = Punkt

Die volkswirtschaftliche Definition des vollkommenen Marktes entspricht dem Bild eines Punktes. Neben den Forderungen der Homogenität (vollkommene Gleichartigkeit der Güter) und der vollkommenen Markttransparenz (alle wissen alles zum Angebot) ist vor allem wichtig: 1. Es gibt keine räumlichen Differenzierungen. Käufer und Verkäufer befinden sich am selben Ort. 2. Es gibt keine zeitlichen Differenzierungen z.B. in Form von unterschiedlichen Lieferfristen. Damit findet der Tauschakt – örtlich und zeitlich – an einem Punkt statt. Die Volkswirtschaftslehre arbeitet sich auch nach hundert oder hundertfünfzig Jahren des Ideals des vollkommenen Marktes weiterhin an dessen Mängeln ab – während die Wirtschaftspolitik die Marktidee als funktionierend vor¬aussetzt. So formuliert zum Beispiel Nobelpreisträger Josef Stiglitz: «Wir haben bewiesen, dass diese Annahme [dass Mängel der Markttransparenz irrelevant sind] falsch ist: Selbst kleinste Informationsdefizite können tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf das Verhalten der Wirtschaft haben.» (1) Ein weiterer Nobelpreis wurde 2016 an Oliver Hart und Bengt Holmström für die Vertragstheorie vergeben. Sie besagt u.a.: «Durch Kooperation können zwei (oder mehr) Parteien einen gemeinsamen Überschuss über das hinaus erwirtschaften, was jeder für sich allein produzieren würde.» (2) Die von der Markttheorie behauptete Optimierung ist in Frage gestellt.

Wo bei Massengütern – Weizen, Kupfer oder Schweinebauch – Markt (Idealform: Börse) gefordert wird, haben qualitative und soziale Aspekte keinen Raum. Das zeigt sich zum Beispiel da, wo Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden sollten. Bislang gab es keine entsprechenden Standards. (Trotzdem gab es unzählige Statistiken über die Entwicklung nachhaltiger Investments.) Und nun, wo sich die EU aufgemacht hat, Nachhaltigkeitsstandards zu definieren, wird beispielsweise auch Kernkraft dazugezählt …

Wertschöpfungskette = Linie

Es ist kein Zufall, sondern vor dem angedeuteten Hintergrund plausibel, dass sich in jüngerer Zeit zwei Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert haben: Lieferkette und Wertschöpfungskette. Bis Mitte der 1990er Jahre war der Begriff der Lieferkette im Sprachgebrauch, soweit er sich in der Presse spiegelt, inexistent. Heute ist der Begriff allgegenwärtig. «Wertschöpfungskette» ist etwas länger im Gebrauch. Solche sprachlichen Veränderungen gibt es immer wieder. So wurde «Problem» weitgehend durch das Wort «Herausforderung» ersetzt. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Sprachgebrauch und Bewusstsein oder gar sozialer Praxis? Hat sich hier etwas entwickelt? Man kann darin einen sich abzeichnenden Paradigmenwechsel sehen, wenn «Markt» von «Kette» verdrängt wird. Während der volkswirtschaftliche Begriff des idealen Marktes per definitionem örtlich und zeitlich einen Punkt meint, zeigt Kette einen «Längsschnitt» und weist auf die grosse Zahl involvierter Unternehmen und Menschen hin.

Lange schien es, als ob das äusserst komplizierte Netz der Weltwirtschaft, das einem Fahrradbauer bei uns bestimmte Komponenten aus verschiedenen Kontinenten zur richtigen Zeit in der richtigen Menge zur Verfügung stellte, von einer wunderbaren «unsichtbaren Hand» (Adam Smith) gesteuert würde, ohne dass sich ein übergeordneter Koordinator bewusst mit diesen Prozessen hätte befassen müssen. Dieses Funktionieren schien der gelebte Beweis für die Funktionstüchtigkeit des arbeitsteiligen marktwirtschaftlichen Konzepts zu sein. Doch nun sind Fäden dieses Netzes an verschiedensten Stellen gerissen. Mangellagen drohen, nicht (nur) wegen des Ukraine-Krieges, sondern aus unterschiedlichsten Gründen, manchmal ganz banal dadurch, dass sich – Spätfolge der Corona-Politik – nicht genügend Container am richtigen Ort befinden oder Chauffeure fehlen. Immer häufiger wird das Gemeinwesen aufgerufen, Unternehmen zu entschädigen, weil der Staat eingreifen musste und bestimmte Entwicklungen nicht vorhersehbar waren. Es wird mehr und mehr Bewusstsein in Sphären erforderlich, die man früher einfach ignorieren, gewissermassen im Un- oder Unterbewussten funktionieren lassen konnte.

Finanzwirtschaft – Realwirtschaft

Es sollte nicht generell behauptet werden, das Bild des Marktes sei falsch. Man kann aber sicher die Feststellung machen: Je «börslicher» Wirtschaft funktioniert, desto zutreffender ist das Bild des Marktes. Je realwirtschaftlicher Wirtschaft funktioniert, desto zutreffender ist das Bild der Kette. Wo regelmässige Dienstleistungen gefordert sind (z.B. Versorgung mit Lebensmitteln), sind festgefügte Ketten vorherrschend. Wo Investitionsgüter zu beschaffen sind, dürften mit Offerteinholungen eher Markt-ähnliche Praktiken dominieren. Die Unterschiedlichkeit des unternehmerischen Verhaltens (Ausrichtung auf Punkt oder Kette) geht bis in den einzelnen Betrieb hinein. Holzbau-Unternehmungen können ihr Rohmaterial börslich einkaufen. Derzeit unterliegen diese Preise grossen Schwankungen mit steigender Tendenz. Oder sie können feste Lieferbeziehungen mit Sägereien eingehen, wie mir Walter Schär von schärholzbau AG in Altbüron erklärte. In der Realität wird es immer Mischformen aus beiden Konzepten geben. Meine eigene Erfahrung zeigt, dass die verlässliche Zusammenarbeit bewirkt, dass Partner in längerfristiger Kooperation über Standardangebote hinaus die Bereitschaft entwickeln, in besonderen Situationen besondere Leistungen zu entwickeln, was vom tendenziell anonymen Markt nicht zu erwarten ist. Derartige Situationen laufen auf jene Konstellationen hinaus, die die Nobelpreisträger Hart und Holström beschrieben haben: gemeinsam werden höhere Leistungen erreicht.

Die zunehmende Arbeitsteilung und Globalisierung bedingt geradezu das Bilden von Liefer-Ketten (Supply Chains). «Auch beschränkt sich SCM schon längst nicht mehr auf eine reine Zusammenarbeit im Vertrieb, sondern meint vielmehr eine Kooperation auf dem Gebiet der Produktion und immer mehr auch der Forschung und Entwicklung. Dies erfordert eine enge und intensive Zusammenarbeit und eröffnet den Partnern viele Einblicke in die beteiligten Unternehmen. Absolute Voraussetzung dazu ist der langfristige Aufbau von Vertrauen.» (3)

Verlässlichkeit und Vertrauen sind allerdings nicht Verhaltensformen, für die man sich schnell mal entscheiden und sie in börslichem Millisekundentempo realisieren kann. Verlässlichkeit und Vertrauen sind Resultate einer Entwicklung in Gegenseitigkeit, die sich in unzähligen Einzelsituationen erweisen müssen – nicht aufgrund einer überzeugten Befürwortung von Zusammenarbeit, sondern aufgrund der Erfahrung ihrer nachhaltigen Wirkung.

Das Schicksal von Ideen in der Wirtschaft

Die Idee einer Wirtschaftspraxis verlässlicher Zusammenarbeit in Ketten (Neudeutsch: Supplychains) von der Produktion bis zum Konsum (also etwas weiter gespannt, als «Wertschöpfungskette» in der Regel verstanden wird) ist gut hundert Jahre alt und wurde von Rudolf Steiner postuliert. Sie wurde damals Assoziation oder assoziative Wirtschaft genannt. Der Begriff ist heute kaum bekannt.

Es gibt gute Ideen in der Geschichte, die von den «falschen» Leuten und/oder im falschen Moment postuliert wurden. So wurde beispielsweise die Idee einer umfassenden Altersvorsorge auf der Basis des Umlageverfahrens in der Schweiz 1969 von der (kommunistischen) Partei der Arbeit in die Volksabstimmung geschickt und war allein schon aufgrund des «falschen» Absenders des Anliegens nicht akzeptabel. Stattdessen haben wir heute ein System mit einer sogenannt 2. Säule nach dem Kapitaldeckungsprinzip, das eklatant ineffizient ist. Es gibt ein weiteres Hemmnis für die Akzeptanz guter Ideen: es sind die überzeugten Anhänger der Ideen selbst. Wenn Ideen zu Glaubensinhalten werden, dann wird die Idee der praktischen Realität oder den Praktikern selbst entrückt. Überzeugungstätern begegnet man oft mit Misstrauen. Gemeinwohlökonomie, Gemeingüter-Ideen (Commons), Freigeld und Freiland (Gesell) oder eben die assoziative Wirtschaft versammeln Gemeinden überzeugter Menschen um sich, welche (ungewollt) bewirken, dass die Ideen in der Ideenwelt isoliert werden und bleiben. Es ist eine Gratwanderung, einerseits eine soziale oder wirtschaftliche Idee (oder ein Konzept) zu vertreten und gleichzeitig nah an den Alltagsproblemstellungen dranzubleiben. Auch mir wurde einmal, als ich vom Mehrheitsaktionär für einen Verwaltungsrat vorgeschlagen wurde, von einem bisherigen Verwaltungsrat an den Kopf geschleudert: Wenn Sie als Ideologe in diesem Gremium Einsitz nehmen, dann trete ich aus; mehrere Geschäftsleitungsmitglieder werden mir folgen.» Da hatte ich etwas falsch gemacht oder ich hatte mich falsch verhalten. Ich verzichtete.

Assoziation: Auf der Suche nach Verlässlichkeit und Vertrauen

Eine in dieser Art oft so oder ähnlich verwendete Umschreibung von Assoziation lautet:

Assoziative Wirtschaft meint den Zusammenschluß von Konsumenten, Händlern und Produzenten mit dem Ziel, die Preise so zu beeinflussen, daß alle Beteiligten damit auskommen können. Erste Ansätze dazu findet man beim Fairen Handel. (4)

Eine solche Umschreibung hat Aufforderungscharakter. Immer wieder tun sich (landwirtschaftliche) Produzenten und Konsumenten (Händler fehlen meist) zusammen, zum Beispiel um «solidarwirtschaftlich» organisierte Höfe («Solawis») aufzubauen. Hier praktizieren sie soziale Zukunft, die sie nicht selten als assoziative Wirtschaft bezeichnen. Assoziatives Handeln zeigt sich allerdings vor allem in einer Haltung, die bei jedem Handeln die «Gegenbuchungen» (ein Begriff, den Udo Herrmannsdorfer oft verwendete) im Auge behält (ein modernerer Ausdruck für Gegenbuchung wäre «Impact»). «Gegenbuchung» bedeutet mit anderen Worten, den Impact des eigenen Handelns mindestens für vor- und nachgelagerte Stufen im Auge zu behalten. Assoziation beginnt mit der Geste des stufenübergreifenden Denkens. Mit dem folgenden Fallbeispiel ist ein Vorgang geschildert, der, wenn er sich in ähnlicher Form wiederholt abspielt, den Partnern zeigt, dass eine ernsthafte, belastbare Zusammenarbeit am Entstehen ist oder bereits entstanden ist:

Die Geschäftsführerin der Bäckerei mit gegen 60 Mitarbeitern hatte festgestellt, dass ihr Einkaufspreis von Kuvertüre (Schokolade) bei ihrem Stammlieferanten, einem Bio-Grossisten, 20 bis 30 Prozent höher lag als bei anderen Anbietern. Wir – ich war Mitglied des Verwaltungsrats – verständigten uns, dass nicht ein Lieferantenwechsel aufgrund einer Preisdifferenz die unmittelbare Folge sein sollte. Wir wollten wissen, welches der «richtige» Preise sei. (Nicht immer ist der tiefere Preis auch der richtigere.) Ausserdem erörterten wir, welches die Bedeutung dieses Lieferanten für uns sei. Ist er für uns gewissermassen «systemrelevant»? Welches ist seine Gesamtleistung für die eigene Produktion? Wie steht es um seine Lieferbereitschaft, Lieferfrequenz usw. Wie sind diese Fragen beim Lieferanten mit den tieferen Preisen zu beantworten? Wir wollten diese Fragen mit dem bisherigen Lieferanten anschauen, allenfalls auch mit alternativen Lieferanten.
In diesem Fall war die Reaktion enttäuschend. Sie hielt sich an die marktwirtschaftliche Regie: Der Grossistenvertreter betrachtete die Problematik nur als ‹normale, bilaterale Verhandlungssituation unter normalen Wettbewerbsbedingungen›. Er signalisierte: «entweder wir können unseren Preis senken, dann ist es für euch und auch für uns o.k. Oder wir müssen eine Preissenkung ablehnen und verlieren den Auftrag.» Er sah kein Bedürfnis, den Preis in einen grösseren Zusammenhang der Lieferbeziehung zu stellen. (5)

Mit diesem Fallbeispiel will ich unterstreichen, dass Vertrauen und Verlässlichkeit in der Lieferkette nicht etwas ist, was einfach organisiert werden könnte, sondern als Kooperationskultur in den Unternehmungen entwickelt werden muss. Nur schon Transparenz in Bezug auf den Geschäftsgang als Voraussetzung von Vertrauen ist für mittelständische Unternehmen oft eine riesige Hürde. Bei der Konfiserie hatte diese Kultur-Entwicklung stattgefunden. Beim Grossisten war dies offenbar noch nicht der Fall.

Entwicklungskonzepte

Steiner brachte seine Idee einer assoziative Wirtschaft im unmittelbaren Anschluss an den 1. Weltkrieg in eine revolutionäre Situation in Württemberg ein, die nach Sozialisierung rief. Er beriet die Arbeiterräte nicht nur im Hinblick auf Sozialisierungsschritte in den Betrieben, sondern auch in Bezug auf Assoziationen. Die Mehrheitssozialisten trugen massgeblich dazu bei, diese Bewegung zu beenden.

Steiner arbeitete mit grossem Einsatz in dieser revolutionären Bewegung mit, solange sie eben Bewegung war. Denn nur aus der Bewegung heraus, da wo Herausforderungen rufen, lassen sich Veränderungen bewirken. Die Frage ist deshalb: wo ist heute Bewegung, wo sind die Herausforderungen?
Mit dieser Frage komme ich zurück zu den Lieferketten. Es gibt sie an den verschiedensten Stellen der Wirtschaft. Ein Beispiel sei der Buchhandel, wie ihn die Wochenzeitung Der Freitag kurz beschreibt:

Verlage unterhalten mit Händlern und Zwischenhändlern mehr oder weniger direkten Kontakt. Gemeinsam vereinbaren sie Werbeaktionen, verhandeln Mengenrabatte, disponieren Liefermengen. Ziel ist es einerseits, zum richtigen Zeitpunkt – etwa während des Weihnachtsgeschäfts – genügend Exemplare vorrätig zu haben. Ziel ist es aber auch, Überbestellungen zu vermeiden. Nicht verkaufte Bücher werden nämlich (nach immer kürzer werdenden Fristen) auf Kosten der Verlage zurückgeschickt. Mit einer gewissen Verzögerung werden diese sogenannten Remissionen bilanzwirksam und enthalten ein beträchtliches Risiko, sofern sich die Balance verschiebt. (6)

Der Artikel in Der Freitag schildert, was passiert, wenn ein Online-Händler wie Amazon in diese kooperative Struktur einbricht, sich nicht an die skizzierten Gepflogenheiten hält, stattdessen eigene Vorgaben macht, die nur auf die eigenen Bedürfnisse abstellen.

Ein Unternehmer, der von Anfang an «Kette» als Gestaltungsaufgabe verstand und eine solche vom Anbau bis in den Endverkauf aufzubauen und zu gestalten begann, war Patrick Hohmann, der 1983 das Textilhandelsunternehmen Remei gegründet hatte. 2002 erhielt Remei zusammen mit Coop den «Award for Sustainable Development Partnerships» der UNO. Die NZZ schrieb in ihrer Ausgabe vom 4.2.2003: «Als Garnhändlerin hatte sie [die Remei AG] Kontakte zu Bauern und Spinnern wie auch zu Färbern, Webern und schliesslich zum Gross- und Einzelhandel. ... Gleichzeitig setzte er sich auch für Fairness und Transparenz ein. Denn in der textilen Kette ist es in der Regel das schwächste Glied – der Baumwollbauer –, das in einer Krise das Nachsehen hat; wenn es dagegen gut läuft, verschwinden die meisten Gewinne bei den Zwischengliedern. Hohmann konnte eine Reihe seiner Kunden und deren Abnehmer davon überzeugen, ihre Margen zu schmälern und zum BioReFonds beizutragen.» Seither hat die Remei AG viele Auszeichnungen erhalten. Verständlicherweise lag der Schwerpunkt bei solchen für ökologische Leistungen.

Mit der Verwendung des Attributs «Fairer Handel» bewegte sich Remei in einen Bereich, der sich seit einigen Jahrzehnten entwickelt, institutionalisiert und mit einschlägigen Standards versehen hatte, die zwar nicht wie Bio-Standards staatlich geschützt sind. Wer den Begriff Fairtrade verwendet, setzt sich aber doch der verständlichen Erwartung aus, die entsprechenden Standards zu erfüllen oder sich zertifizieren zu lassen. Die Kurzumschreibung des Instituts für soziale Dreigliederung (siehe oben) enthält den Hinweis: «Erste Ansätze dazu [zu Assoziationen] findet man beim Fairen Handel.» Dies ist deshalb unzutreffend, weil sich die Fairness paradoxerweise nicht auf «Trade» (Handel, Wertschöpfungskette), sondern auf die sozialen und ökonomischen Produktionsbedingungen bezieht, wo von Anbeginn an die ILO-Standards (International Labor Organisation) und mit den Fairtrade-Mindestpreisen und -Prämien die Einkommen der in der Produktion Tätigen massgeblich waren und die Handelsbeziehungen von untergeordneter Bedeutung blieben. Meine eigenen Erfahrungen zeigen, dass selbst Boykottmassnahmen, also sehr unfaire Praktiken, unter konkurrierenden Fairtrade-Vermarktern von den Fairtrade-Organisationen nicht sanktioniert werden (können). Vom Handel wird lediglich gefordert, dass er transparent sei. Gerade weil sich die Preisgestaltung nur auf das erste Glied und nicht – wie etwa bei Remei – auf die ganze Kette bezieht, wies die Frairtrade-Pionierin Ursula Brunner immer wieder darauf hin, dass die eigentlichen Profiteure von Fairtrade nicht die Produzenten, sondern die Endverkäufer hierzulande sind. Dies passiert dann, wenn aufgrund eines etwas höheren Anfangspreises (z.B. für die Bananen-Bauern) übliche Handelsspannen hochgerechnet werden. Der prozentuale Aufschlag bleibt gleich, der nominale Aufschlag am Ende der Kette in Euro oder Franken kann sich allenfalls verdoppeln, wenn eben kein assoziativ-übergreifender Wille besteht, gemeinsam einen Endpreis zu kalkulieren und die gesamte Ertragsspanne auf die Beteiligten zu verteilen. Ein hoher Preis ist denn auch eines der Kennzeichen von Fairtrade-Produkten. Die Konsumentin darf meinen, die Preisdifferenz komme den Produzenten zugut. Deshalb war das Stirnrunzeln der Fairtrade-Organisationen unübersehbar (und verständlich), als Remei in Deutschland über den Discounter Penny zu vermarkten begann.

Bei Remei war es der unternehmerische Wille eines Beteiligten in der Wertschöpfungskette, die Partner von der Notwendigkeit einer bewussten Handhabung der Kette zu überzeugen. Ich gehe davon aus, dass sich daraus mit der Zeit eine nachhaltige sozial-ökonomische Kultur entwickelte, die nicht ohne weiteres durch eine einzelunternehmerische Entscheidung beseitigen lässt. Trotzdem kann «Assoziation durch einzelunternehmerischen Willen» nicht das Muster sein, das in der Wirtschaft vermehrt zu assoziativem Verhalten führt. Welche anderen Ansatzpunkte gibt es?

Wie oben festgestellt: kooperatives Verhalten zwischen den einzelnen Gliedern der Kette ist Realität. Wie kommt es aber zu einem gemeinsamen Willen in der Preisbildung? Von jetzt auf gleich eine Preisfestsetzungsautorität einzuführen, ist unrealistisch. Realistisch und schon immer Realität ist die Orientierung an bestimmten Preiszielen. In eine solche Funktion im Kleinen entwickelten wir im Bio-Frischprodukthandel – eigentlich ohne Absicht: Wöchentlich übermittelten wir unseren Kunden (v.a. Läden) unsere Preisliste. Diese hatten wir aufgrund unserer Informationen im Grosshandel zusammen mit dem Vertreter eines Ladens, der Produzenteninformationen eingeholt hatte, ausgearbeitet. Da war also bereits eine rechte, stufenübergreifende Spannbreite an Preisinformationen eingeflossen. Es zeigte sich mit der Zeit, dass mehr und mehr Produzenten unsere Preisliste anforderten, um sich bei der eigenen Vermarktung an dieser zu orientieren. Und so entstand ein Bio-Preisbulletin, das es im konventionellen Gemüsehandel / Gemüseverband schon längst gab. Es brauchte keine Autorität, die Preise verfügte und Abweichungen sanktionierte (was kartellrechtlich ohnehin verboten gewesen wäre).

Dies verweist auf eine zentrale Funktion jedes Organs, sowohl beim individuellen Menschen wie im Sozialen. Eine zentrale Aufgabe jedes Organs – auch Herz oder Leber usw. – ist das Wahrnehmen, gewissermassen der «Datenverkehr». Interessanterweise sind es auch in der internationalen Politik immer wieder «Organisationen der Wahrnehmung», wie die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der UN-Menschenrechtsrat oder das World Energy Council (7), die, ohne direktive Kompetenzen zu haben, wichtige Impulse des Ausgleichs vermitteln. Dies trifft zunächst auch für Organe einer Assoziation zu. Die zentralen Organe von Branchenorganisationen (Verbänden) haben traditionellerweise als «Wahrnehmungs-Aufgabe» u.a. das Sammeln und statistische Auswerten von Informationen, Betriebsvergleiche zur Unterstützung betrieblicher Entscheidungen usw. Die Assoziation ist zunächst in diesem Sinn nicht eine Behörde oder ein Konzern-Organ, das über Strukturen entscheidet oder Preise festsetzt, sondern «nur» eine Stelle, die mit viel Wissen über den Wirtschaftsverkehr der Branche Prozesse moderiert. Die Verpflichtung der Mitglieder dieser Assoziation wäre beispielsweise, sich an den moderierten Prozessen zu beteiligen. Sind solche Regulierungen erfolgreich, können weitere Schritte gemacht werden.

Es gibt auch staatliche Rahmenbedingungen, welche zu assoziativen Ansätzen führen können. Dies geschah beim PET-Recycling in der Schweiz. In einer entsprechenden Verordnung formulierte der Bundesrat (Exekutive) das Ziel einer mindestens 75%igen Verwertungsquote bei PET-Getränkegebinden (bei Androhung der Einführung eines Flaschenpfands). Die Branche organisierte sich und erreicht derzeit etwa 82%.

Heute dürften einerseits das Kartellrecht und andererseits WTO-Bestimmungen vielen Koordinations- oder gar Kooperations-Entwicklungen entgegenstehen. Das in der Zusammenarbeit entstehende Vertrauen ist grundsätzlich verdächtig. Im Kartellrecht wird die Zusammenarbeit von Unternehmen nur unter dem Aspekt der Wettbewerbsbehinderung gesehen. Als der Stiftungsrat der Kartause Ittingen (ein Kulturzentrum in der Ostschweiz) einen Erweiterungsbau ins Auge fasste und dem Architekten, mit welchem er vor Jahren gut zusammengearbeitet hatte, den Planungsauftrag erteilte, intervenierte der Staat (der die Stiftung ursprünglich errichtet hatte und sie massgeblich finanziert). Der Auftrag musste gemäss WTO-Regeln ausgeschrieben werden. Das Vertrauen in den früheren Architekten war kein Entscheidungsargument.

Wie bei Governance-Postulaten in anderen Wirtschaftsbereichen, werden Nähe und gute Beziehungen als problematisch beurteilt. Gemauschel und Bereicherung sieht man als garantiert an. Doch auch hier wie beim Kartell – und bei der Assoziation – könnten Verfahrensregeln enge Zusammenarbeit möglich machen. Was wäre beispielsweise an einem Kartell problematisch, das öffentlich auftritt und Auftragszuteilungen und Preise einer entsprechenden Stelle transparent kommunizieren würde? Weil Synergieeffekte durch Kooperation kartellgesetzlich oft verhindert wird, kommt es zu Fusionen, die zwar mit kartellrechtlichen Auflagen versehen werden, letztlich aber nicht verhindert werden können.

Wie dieses Beispiel eben zeigte, kann sich die Lieferkette, wie sie an unzähligen Stellen der Wirtschaft üblich ist, zur Assoziation weiterentwickeln, wenn die Möglichkeiten mit einiger sozialer Phantasie ausgeschöpft würden. Dazu bräuchte es die Menschen, die das Potential von Assoziationen sehen und in den Wirtschaftsstrukturen und -prozessen aktiv würden – Endverbraucher eingerschlossen. Wirtschaft besteht ja nicht nur aus Produktion und Handel, beide sind letztlich auf den Konsum ausgerichtet. «Konsum» umfasst aller¬dings nicht nur Konsumgüter für Endverbraucher im engeren Sinn. Endverbraucher kann auch ein Betrieb sein, der eine Druckerei-, Spinn- oder Verpackungsmaschine einkauft. Jedenfalls wird sich die Frage stellen, wie die Bedürfnisse / Interessen der Käufer in die Lieferkette einbezogen werden können.

Anmerkungen

(1) «Der diesjährige Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ging an George Akerlof von der University of California in Berkeley, Michael Spence von der Stanford University und an mich für unsere Studien über die "Asymmetrie der Information"» Joseph E. Stiglitz: Märkte funktionieren anders“ in: Der Standard, 6.12.2001.
(2) Klaus Schmidt in: Wirtschaftsdienst 2016, Heft 12 S. 926
(3) Paul Schönsleben, Ralf Hieber und Markus Bärtschi: Das Logistik-Management sprengt Unternehmensgrenzen Vertrauensbildung als Voraussetzung zum Aufbau stabiler Lieferketten. NZZ 19.11.2002
(4) Website des Instituts für soziale Dreigliederung, Berlin: www.dreigliederung.de, Zugriff 2.9.22
(5) Dieses Fallbeispiel habe ich meinem Buch «Solidarwirtschaft», Basel 2014 S. 218 ff. entnommen und hier zusammengefasst.
(6) Herbert Ohrlinger: Böses Online-Krokodil: Frisst Amazon jetzt die Verlage? Der Freitag 34/2022
(7) «Die Idee zur Gründung ging in den 1920er Jahren von Daniel Nicol Dunlop aus, der Energieexperten aus aller Welt zusammenbringen wollte, um aktuelle und zukünftige Energiefragen zu erörtern. Zu diesem Zweck organisierte Dunlop im Jahre 1923 nationale Ausschüsse, die 1924 in der ersten World Power Conference (WPC) (Weltstromkonferenz) mündeten. In London trafen sich 1700 Experten aus 40 Ländern, um über Energiefragen zu diskutieren. Die Sitzung war so erfolgreich, dass sich die Anwesenden am 11. Juli 1924 darauf einigten, die Konferenz als permanente Organisation zu etablieren. Als Name wurde World Power Conference gewählt und Dunlop zum ersten Vorsitzenden ernannt.» Wikipedia. Als Schüler Rudolf Steiners war Dunlop vertraut mit dessen Ideen einer assoziativen Wirtschaft.

Vier Bioläden in der kleinen Stadt – etwa drei zu viel

In unserer kleinen Stadt (25'000 Einwohner) gab es einst einen Bioladen/Naturkostladen. Mit seinen nur ca. 70 m2 Verkaufsfläche war er allerdings zu klein und zu wenig attraktiv. Der Umsatz ging denn auch von Jahr zu Jahr sachte zurück, dementsprechend das Ergebnis. In dieser Entwicklung spiegelte sich u.a. die zunehmende Stärkung von «bio» im Lebensmitteleinzelhandel (Coop, Migros). Die Frage stellte sich: schliessen oder Flucht nach vorn. Der Genossenschaftsvorstand war durchaus für Flucht nach vorn, konnte aber keinen Standort finden, der ohne (zu) grosse Investitionen ausgekommen wäre, die unternehmerische Initiativkraft reichte nicht aus. So wurde geschlossen.

Mittlerweile gibt es in der Stadt vier Standorte mit Bio-Sortimenten: Das schon lange bestehende Reformhaus hat sein Sortiment nach Schliessung des früheren Bioladens stark ausgeweitet. Der Blumenladen einer Stiftung für Behinderte hat mit einem (Bio-) Lebensmittelsortiment ausgebaut. Einige Frauen haben einen kleinen Unverpackt-Laden gegründet. Und schliesslich hat eine Mutter mit ihrer Tochter kurzerhand einen kleinen Bioladen mit regionalen Produkten auf die Beine gestellt. Daneben gibt es mittwochs und samstags einen Wochenmarkt mit drei Bio-Ständen und einen Fairtrade-Laden mit einem Bioprodukt-Sortiment. Trotzdem ist das Bio-Sortiment insgesamt nicht in seiner ganzen Breite und Tiefe greifbar, die gelegentliche Fahrt in die Nachbarstadt bleibt notwendig.

So ist halt Marktwirtschaft – es lebe das freie Unternehmertum! Oder was könnten assoziative Strukturen und Prozesse leisten? Über kurz oder lang wird die Mehrheit dieser Angebote wieder verschwinden. Verluste und Enttäuschungen sind die Folge.

Weiterlesen: Vier Bioläden in der kleinen Stadt – etwa drei zu viel

PET-Recycling

Das PET-Recycling in der Schweiz ist so etwas wie ein Paradepferd assoziativer Lösungen. Nicht der Staat oder eine seiner dazu gegründeten Entsorgungsunternehmen organisieren es, sondern die Getränkebranche selber. Der Staat gab zu Beginn die zu erzielende Rücklaufquote vor unter Androhung von Eingriffen (z.B. Pfandobligatorium), falls diese Quote nicht erreicht würde. Heute beträgt die Rücklaufquote aus separater Sammlung 81%. (Insgesamt dürfte sie höher liegen, weil PET auch mit anderen Plastic-Abfällen eingesammelt wird.) Die Branche möchte die Quote aber erhöhen, was mit zusätzlichen Sammelcontainern entlang der Strassen und Schienen-Verkehrswegen erreicht werden soll.

Schutz der Umwelt und damit der Individuen ist eine staatliche Aufgabe. Die Zirkulation von Gütern, dazu gehören auch Gebinde, ist eine wirtschaftliche Aufgabe. Sie kann – wie Figura zeigt – assoziativ gelöst werden.

Die Reklametafel

An meinem Weg in die Stadt gibt es ein Kebab-Lokal. Dieses hat auf dem Trottoir (Bürgersteig) eine Reklametafel aufgestellt. Wenn wir zu zweit unterwegs sind, müssen wir an dieser Stelle hintereinander gehen. Wenn jemand mit Kinderwagen da vorbei will, dann muss er oder sie sehen, ob der Wagen nicht zu breit ist.

Das würde in Zürich (oder einer anderen Grossstadt) nicht passieren. Zürich hat ein dickes Reglement, in welchem alle denkbaren Elemente der Aussengestaltung eines Ladens oder eines Restaurants (gebühren- und bewilligungspflichtig) geregelt sind. Selbst für eine Lichtreklame, die wenige Zentimeter von der Fassade absteht, braucht es ein Gesuch mit Planbeilage und ist eine Gebühr zu zahlen, da der Luftraum (die sogenannte «Luftsäule») der Stadt beansprucht wird – erst recht ist die Stadt um Erlaubnis zu fragen, wenn jemand bei seinem Eingang links und rechts je ein Buchsbäumchen hinstellen will. Nicht die Stadt bezahlt für die Begrünung des Strassenraums, sondern der Liegenschaftseigentümer für die Beanspruchung städtischen Bodens. Ein solches Reglement entwickelt sich über lange Zeit, jede Detaillierung dürfte von einer noch ungeregelten Situation angestossen worden sein. So hat alles seine Ursache und guten Gründe. Auswüchse (auf der Strasse, nicht in der Verwaltung) werden erfolgreich vermieden. Zürich ist ja kein orientalischer Bazar.

Weiterlesen: Die Reklametafel

Rohstoffeinkauf und Preis

Wir waren uns schnell einig, nachdem mich die Geschäftsführerin der Unternehmung darüber informiert hatte, dass der Rohstoff beim Grossisten, dem bisherigen Lieferanten, erheblich teurer sei als bei einem Verarbeiter, der den Rohstoff vor allem selber verwendet und eher nebenher auch verkauft. Wir waren uns einig, dass wir nun nicht kommentarlos den Lieferanten wechseln, sondern die Preissituation mit beiden diskutieren wollten – nicht zuletzt auch deshalb, weil unsere Geschäftsbeziehung nicht nur aus diesem Rohstoff, sondern aus weiterem Leistungsaustausch bestand.

Ich notierte mir damals die Aspekte:

  • Ist es langfristig gesehen wichtig, dass es diesen Lieferanten [den Grossisten] gibt? Dieser Aspekt sollte dann einbezogen werden, wenn Handlungsspielraum vorhanden ist. Es ist im Interesse der eigenen Unternehmung, mit dem eigenen Einkaufsverhalten eine sinnvolle Struktur zu unterstützen.
  • In Preisverhandlungen kann es sinnvoll sein, die Parameter transparent zu machen. Damit ist die Botschaft verbunden: wir wollen nicht nur Preise drücken, sondern wir beurteilen die Preise im Verhältnis zur Gesamtleistung.
  • Ich bin immer wieder dem Problem begegnet, dass die Lieferanten/Produzenten [gemeint war der erwähnte Verarbeiter] zwar gerne auch noch über den Absatzkanal Grosshandel liefern, aber dem Gross¬handel für dessen Dienstleistung (die der Lieferant/Produzent spart) keine aus-reichende Marge gewährt. In solchen Fällen könnte es sinnvoll sein, nicht nur mit dem Grossisten zu verhandeln, sondern ebenso mit dem Lieferanten/Produzenten [Verarbeiter].

Mit der ersten Bemerkung ist ein Commitment gegenüber dem Grossisten ausgesprochen; mit der letzten Bemerkung wollte ich signalisieren, dass es (auch) um die Wertschöp-fungsket¬te und um Ertragsteilung entlang der Wertschöpfungskette geht.

Der Grossist reagierte mit den Worten in einer Mail:

Weiterlesen: Rohstoffeinkauf und Preis