Der schützende Staat und das souveräne Individuum
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- Erstellt: Mittwoch, 17. November 2021 15:11
Anmerkung: diesem Blog-Beitrag schliesst sich eine kritische Stellungnahme von Dr. Karl Weber an.
Die Diskussion der gegenwärtigen Pandemie kreist – immer wieder um dieselben je nach Gruppe jedoch konträren Motive, die sich aber nicht berühren und deshalb nicht zu einer Lösung kommen können. Die Einen beanspruchen gesamtgesellschaftlich zu denken, appellieren an die Solidarität und haben nicht allzu grosse Hemmungen, wenn es darum geht, Solidarität (eigentlich ein Verhalten ohne Zwang) auch mit Druck durchzusetzen. Die Anderen rufen: Ich nicht! Sie wollen sich den Massnahmen, insbesondere der Impfung, nicht unterziehen. Doch zuvor erregte schon die Maskenpflicht Anstoss. Einen freien Menschen soll man nicht zwingen können, sich einem «pharmakologischen Experiment» wie dies etwa (oder noch viel schlimmer) empfunden wird, zu unterziehen.
Eigentlich könnte diese Konstellation ein ausgezeichneter Anlass für die Diskussion einiger wichtiger gesellschaftlicher Fragen sein. Wenn nur die Gelassenheit dazu nicht fehlte! Und wie wenn die Schwierigkeit im Kleinen nicht schon gross genug wäre, wird die Gesundheits- und Massnahmendiskussion noch durch parteipolitische Stellungnahmen und archaische Bewegungen überlagert, die glauben machen, man müsste sich mindestens auf einen Kampf in der Dimension desjenigen des fast mythischen Kampfes gegen die Habsburger im 13. Jahrhundert vorbereiten.
Nehmen wir aber doch einmal an, es gäbe genügend Interessierte, die sich fragen, wie eine Gesellschaft grundsätzlich mit einer gesundheitlichen Bedrohungslage zurechtkommen könne – es gäbe genügend Engagierte, die sich vorstellen können, dass sich eine ernsthafte gesundheitliche Gefahr epidemisch verbreiten kann, gegen die etwas unternommen werden muss. Wer solche Fragen grundsätzlich, von der aktuellen Situation abstrahierend, stellen kann, wird sich fragen: Wer hat in diesem Moment was zu unternehmen? Was ist zu beachten?
Natürlich unterscheiden sich die Massnahmen, die mir oder jemand anderem (z.B. Bill Gates, Jair Bolsonaro oder Xi Jinping) in den Sinn kommen in Abhängigkeit der Gesellschaftsbilder, die jeder mit sich herumträgt. Ich beispielsweise sehe die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche funktional gegliedert. Etwas konkreter:
- Nachdem wir mehrhundertjährige Erfahrung mit der Entwicklung einer Kultur haben, die auf dem Erfinder- und Künstlergeist von mehr oder weniger frei schaffenden Individuen aufbaut, sei der Bereich des Kultur- und Geisteslebens weiterhin ganz unter den Einfluss ihrer kreativen Kräfte gestellt. Sie sollen ihn im Sinn der Idee der Selbstverwaltung und weitgehender Freiheit selber führen.
- Damit ist der Hort der Freiheit auch schon abgehakt. Im Gegensatz zu den Wirtschaftsliberalen prägt für mich die Wirtschaft nicht etwa das «freie Unternehmertum» (dieses bildet eigentlich einen Bestandteil des Geisteslebens). Sie muss geprägt werden von Strukturen der Selbstverwaltung. Das ist – gerade in der Schweiz mit ihren unzähligen Genossenschaften und Korporationen – nicht etwas völlig Neues. Es gibt sie in verschiedenen Branchen ansatzweise auch sonst. Ansätze der Selbstorganisation und Selbstverwaltung werden durch die Kartellgesetzgebung behindert, Kooperation wird verunmöglicht. In wirtschaftliche Selbstverwaltungsstrukturen wären namentlich die Abnehmer von Gütern und Leistungen verstärkt einzubinden. (Im Slang funktionaler Differenzierung spricht man von «assoziativer Wirtschaft».)
- Die von jungen Sozialisten immer wieder eingebrachte «Überwindung des Kapitalismus» ist nicht ein Thema der Wirtschaft, sondern des Rechtslebens. Grosse Anläufe mit eher bescheidenen Zielen wurden mit den Juso-Volksinitiativen (Erben, Steuern, viel früher auch Bodenrecht) verschiedentlich unternommen. Die herrschenden Kräfte haben sie abgewehrt. Es braucht noch einige Hartnäckigkeit in diesen Belangen. Das Rechtsleben hat aber nicht nur den ideellen Charakter von Gesetzen, sondern auch den ganz «leibhaftigen» des institutionalisierten Staates. Dessen Funktion ist es, den physischen und geistigen Entwicklungs- und Bewegungsraum des Menschen zu schützen. Das Individuum, die Familie, das Dorf sind wehrlos gegen Überschwemmungen, Bergstürze, Klimawandel, epidemisch sich verbreitend Krankheiten, Übergriffe auf das Geistesleben.
Wir bemerken: Das Geistesleben (unsere ganze Kultur) baut auf Individuellem auf und beansprucht Entwicklungsraum, der vielleicht nicht immer wie gewünscht zur Verfügung steht oder andere Räume bedrängt. Der Staat andererseits und mit ihm die Mehrheit der Bevölkerung kümmert sich nicht so sehr um Individuelles, sondern will Lösungen, die für alle gelten. Demokratie, unser Konzept staatlicher Machtverteilung, ist nun einmal das Instrument der Mehrheit. Die Mehrheit beziehungsweise in ihrem Auftrag der Staat neigt zu repressivem, ausschliessendem Verhalten. Deshalb sind geschützte Räume für die individuelle Entwicklung wichtig. Wie kann der Staat in kritischen Situationen (siehe oben) seine ihm übertragene Schutzfunktion ausüben? Es stellt sich eine ganze Reihe von Fragen. Ich beginne mit einem Beispiel, das sowohl das Mehrheits-Schutzbedürfnis als auch die individuelle Perspektive spiegelt:
Etwa in den 1980er Jahren grassierte ein Geld-Schneeballsystem unter dem Namen European King’s Club. Viele gewinnsüchtige, sonst aber arglose Bürger liessen sich hereinlegen und verloren Geld. Der Staat konstruierte daraufhin einen Schutzmechanismus, der darin bestand, dass jeder Empfänger von mehr als zwanzig Darlehen eine Banklizenz braucht (eine sehr hohe Schwelle, mit der eine Beaufsichtigung verbunden ist). Viele Jungunternehmer, aber auch Sportvereine gerieten in arge Schwierigkeiten. Sie finanzierten sich mit Darlehen aus einem grösseren Verwandtschafts- und Freundeskreis. Ich war damals zwar auch Jungunternehmer (mit biologischen Lebensmitteln), hatte damals aber bereits Darlehen zurückbezahlt, sodass ich nicht in Bedrängnis geriet, hingegen in die Lage, dass ich einem Unternehmen, dem ich ein Darlehen geben wollte, dieses nicht geben durfte, weil das Unternehmen die Limite von zwanzig Darlehen bereits erreicht hatte. Ich konnte sehr genau beurteilen, welches Risiko ich mit diesem Darlehen eingegangen wäre. Doch der Staat beanspruchte mich zu schützen, deshalb durfte ich das Darlehen nicht geben. Ich erhielt einen Schutz, den ich gar nicht wollte.
Die Fragestellung zusammengefasst: Der nach Mehrheitsprinzipien funktionierende Staat hat grundsätzlich die Aufgabe, der Gesellschaft, einzelnen Gruppen oder Regionen, den Individuen Schutz zu gewähren. Wann soll dieser Schutz wirken? Wie soll er wirken, damit nicht der Schaden allenfalls noch grösser ist als der Nutzen? Dazu sind einige Fragen zu stellen:
Sieben Fragen
(1) Eine erste Frage lautet also: Wo ist der Schutz des Staates angebracht, wo nicht – beziehungsweise: wo gibt es Schutzmöglichkeiten, welche subsidiär von Involvierten / Betroffenen selber aufgebaut werden kann? Vor Jahrzehnten debattierte die Schweiz über die Gurtentragepflicht im Auto. Ist es am Staat, den Einzelnen vor sich selber zu schützen? Ja, denn er bezahlt die Heilungskosten oder Sozialkosten, wenn der Familienvater ums Leben kommt. Oder müsste in dem Fall nicht etwas mit den Finanzierungen verändert werden, um die Verantwortungen klarer zuzuordnen? Fragen über Fragen. In den 1980er Jahren durfte ich einem Projekt, das ich sehr genau kannte, ein Darlehen nicht geben, weil der Staat mich vor dem Verlustrisiko schützen wollte. Wollte ich aber gar nicht. Undsoweiter.
(2) Eine weitere Frage lautet: Wie kommt der Staat zu Urteilen und Entscheidungen? Mit Mehrheiten? Das versteht sich keinesfalls von selbst. Das richtige Handeln hat vor allem mit Erkenntnis, mit Wissenschaft zu tun. Wahrheit ist nicht mit Mehrheitsbeschlüssen zu finden. Da ist also die Beziehung zwischen Geistesleben (Wissenschaft) und Staat zu diskutieren. Ich habe längere Zeit mit einem linken Leserbriefschreiber E-Mail-Verkehr gehabt. Er schrieb zum Beispiel von den nicht nachvollziehbaren Gründen der Impfgegner, und ich fragte immer wieder: für wen nicht nachvollziehbar? Einen Papst haben wir schon längst nicht mehr, der beurteilen könnte, was als nachvollziehbar und was als nicht nachvollziehbar gelten darf. Zum Geistesleben gehört ferner die öffentliche Kommunikation, Presse, Radio, Fernsehen. Das Schweizer Radio und Fernsehen hat sich bald zwei Jahre lang darauf beschränkt, die Entscheidungen des Bundesrats zu kommunizieren und zu erläutern. Dazu gab es nie eine kritische Frage. Die «Leitmedien» verhielten sich ähnlich gouvernemental. Nur die NZZ war etwas in sich gespalten, ein Lichtblick. Wer sich über alternative Aspekte unterrichten wollte, musste auf Plattformen zugreifen. Für mich sehr ergiebig war inforsperber.ch.
(3) Wie steht es mit der Machtausübung? («Disziplinierungsabsicht») Ich gehe (für die Schweiz) klar davon aus, dass es solche Taktiken gegeben hat und weiterhin gibt. Dazu gehörte immer wieder auch Angstmacherei, z.B. vor Überlastung von Intensivstationen. Insgesamt verläuft die Kommunikation – nicht nur seitens Staat – viel zu fokussiert. Täglich werden sogenannte Fallzahlen publiziert – nur mit Vorwochenvergleich aber ohne Bezug zu anderen bestehenden Gefahren und Todesursachen (Verkehr, Hunger, verschiedene Krankheiten, Konflikte). Sehr fragwürdig (und angstmachend) waren immer die Todesfall-Zahlen (mit/an Covid) – und schon gar keinen Vergleich gab es mit dem Leiden aufgrund von Kollateralschäden. So können keine richtigen Urteile entstehen. Die Informationen können nicht nur unvollständig sein, sondern auch irreführen. Ein Beispiel: Dass das Bundesamt für Gesundheit ständig mit Impf-Prozentzahlen auf der Basis der Gesamtbevölkerung, (auch der nicht impfbaren bis 12jährigen) operierte und ausserdem die Genesenen systematisch aus der Betrachtung ausschloss, führte zur «dramatisch tiefen» Impfquote im Bereich von etwa 65%. Mit der Bevölkerung ab 12 Jahren plus Genesenen ergaben sich über 75% (während 80% einst als Traumziel und als Moment der Lockerung aller Massnahmen angegeben worden war). Eine solche Informationspolitik ist tendenziös. Mit solchen Zahlen wird Druck ausgeübt und werden Massnahmen gerechtfertigt. Es fällt mir schwer zu glauben, dass dies nicht Absicht gewesen sei. Von Lockerung war nun allerdings nicht mehr die Rede. Denn es war ja nicht auszuschliessen, dass sich die Intensivstationen wieder füllen könnten. Ja, stimmt. Nichts ist auszuschliessen, nie! Dies ist weltweit das Argument von Herrschern, Ausnahmezustände beizubehalten. Heute soll nun das Zertifikat in die heile Welt des «alles ist wie früher» locken. In Konzertsälen, Restaurants, Events usw. herrscht wieder Belegungsnormalität, wie wenn es keine Ansteckungen geben könnte (trotz Drohung überfüllter Intensivstationen). Der «Corona-Papst» Drosten sieht es riskanter. Geimpfte können Nichtgeimpfte ebenso anstecken. Gleichzeitig werden Nichtgeimpften die Tests nicht mehr bezahlt und sie nicht mehr in zertifikatspflichtige Räume gelassen. Usw. Teilweise wird Nichtgeimpften Berufsausübung nahezu verunmöglicht. (Wo und wie trifft man sich in einer Stadt zu einer Besprechung, wenn nicht in einem Café?) Dies ist eine Repressionsstrategie, für die gemäss Hochschuljuristen das Wort «Diskriminierung» nicht gerechtfertigt sei. Man könne nur diskriminiert werden aufgrund von Merkmalen, die man nicht verändern könne (!). Dann nenne ich es halt «staatlich organisiertes Mobbing».
(4) Eine vierte Frage: Wie wird die Phase, während der eine Schutzmassnahme läuft, demokratisch und wissenschaftlich evaluiert? Es gibt – in der gegenwärtigen Krise – so und so viele Mängel in der wissenschaftlichen Begleitung der Pandemie. Ebensolche in der einigermassen objektiven Information über die Pandemie. Es will mir nicht in den Kopf, dass es nicht möglich war, viel zuverlässigere Aussagen über Ansteckungswege zu machen. Es wurde ein riesiger Tracking-Aufwand betrieben (davon hört man nichts mehr), einzelne Trackings mögen zu persönlichen Warnungen geführt haben, nicht aber zu weiterführenden verallgemeinerbaren Erkenntnissen. Derweil wurde kürzlich eine Mobilitätsstudie veröffentlicht mit genau dem Setting, das es gebraucht hätte: einige Tausend Menschen, die ihre Wege exakt aufzeichneten. Da hätte man Ansteckungsknoten ohne weiteres finden können. Das hätte da Entlastungen und dort Verschärfungen der Massnahmen ermöglicht. Nun heisst es einfach: die meisten Ansteckungen finden in der Familie statt. Sehr erhellend! Oder weshalb gibt es (weltweit!) keine systematische Nebenwirkungserfassung der Impfungen? Es handelt sich um revolutionär neue Impfstoffe, die in unvorstellbar kurzer Zeit entwickelt worden sind. Allfällige Fehlfunktionen und Schäden scheinen jedoch niemanden sonderlich zu interessieren.
(5) Die nächste Frage bezieht sich auf mögliche Ziele staatlichen Handelns. Wir leben in einer Gesellschaft, die unter Umständen Millionen aufwendet, um das Leben eines einzigen Menschen zu retten. Tod darf unter keinen Umständen sein. Jürgen Habermas widmete im September 2021 der hier gestellten Frage einen ausführlichen Artikel. So wirft er etwa die Frage auf: «Es ist vielmehr eine verfassungsrechtliche, in ihrem Kern rechtsphilosophische Frage, ob die Regierung eines Verfassungsstaates überhaupt das Recht hat, Politiken zu verfolgen, mit der sie eine wissenschaftlich vorhersehbare, also nach menschlichem Ermessen vermeidbare Steigerung der Infektions- bzw. Sterbezahlen in Kauf nähme.» Was müsste man da von Staates wegen nicht alles verbieten, um einige Verkehrstote, Bergtote, Rauchertote usw. zu verhindern!
Weniger prinzipiell denkend, dafür dem Leben (und dem Tod) wesentlich näher, war der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der in einem Interview den Satz aussprach: «Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären». Der aus dem Interviewzusammenhang gerissene Satz löste grösste Empörung aus. Der Satz ist zwar wahr. Sowas sagt man aber einfach nicht. Der Rapunzel-Gründer Joseph Wilhelm fügte gemäss taz hinzu: «Aber sind wir doch mal ehrlich: Umso älter Menschen werden, umso weniger bedeutsam ist die Todesursache. Unser Leben ist nun mal endlich.» Es sei seltsam, «dass wir den Tod, dem wir aus welchen Gründen auch immer irgendwann erliegen werden, mit allen Mitteln zu verhindern suchen.» Wilhelm ist ein alter Mann. Er sprach nicht nur über irgendwelche Bevölkerungsteile, sondern gleichzeitig über sich selber. Ebenso grosse Empörung. Eine Drogeriekette von Coop listete daraufhin die Rapunzel-Produkte aus. Immer wieder wurde in der vergangenen Zeit die Frag aufgeworfen, wieviel Lähmung des Lebens (v.a. im Bereich von wenig gefährdeten Schülern, Jugendlichen und jungen Menschen) legitim sei, um ältere Menschen zu schützen.
(6) Die Frage nach den Betrachtungsalternativen. Jedermann spricht über einen Bösewicht (das Corona-Virus), das noch keiner gesehen hat. Es ist wohl mehr als nur von symbolischer Bedeutung, dass sich die ganze Ursachendiskussion allein auf einen mikroskopisch kleinen Erreger konzentriert und auch die «Therapie» auf dieser Ebene stattfindet, wie wenn sich nicht seit Jahren eine ökologische Diskussion in Entwicklung befinden würde, welche eine derartige Abkoppelung eines Geschehens von den weiteren Zusammenhängen eigentlich verbieten würde. Dass Fachwissenschafter (Virologie, Epidemiologie) sich auf dieser Ebene bewegen, ist verständlich. Man überlässt die Entwicklung chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel allerdings je länger desto weniger den Chemikern allein. Diese haben es nicht nur fertig gebracht, Insekten und Unkraut zu vernichten, sondern auch die Umwelt nachhaltig zu vergiften. Der wissenschaftliche Diskurs muss wesentlich breiter eingebettet werden. Damit könnte allenfalls auch vermieden werden, dass sich die Federführung für die ganzen Impfprozesse allein in den Händen einiger Pharmafirmen befindet, die A. massiv von staatlichen Vorleistungen (einschlägigen Grundlagenforschungen) profitierten, B. alleine von den Gewinnen profitieren, die sie mit den staatlichen Einkäufern machen und C. jegliche Garantie und Haftung für ihre Erzeugnisse ausschliessen. (Genau solche Vorgänge wären mit der oben angedeuteten assoziativen Wirtschaft auszuschliessen.)
(7) Und last but not least die Frage: Wie bringt man individuelle Urteile und individuelles Verhalten einerseits und kollektive, sogenannt «solidarische» Massnahmen unter einen Hut? Früher hat man die (Erwachsenen-) Täufer einfach verfolgt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Mehrheitsgesellschaft verlangte Verzicht auf individuelle Überzeugung – oder Existenzen wurden vernichtet. Mittlerweile gibt es zivilisiertere Vorgehensweisen, um den Gemeinschaftswillen durchzusetzen, ohne Existenzen zu vernichten. Ich denke an die Zivildienstpflicht von Militärdienstverweigerern. Das Individuum hat mit seinen Erkenntnissen, Urteilen und Überzeugungen seine Heimat im Geistesleben. Dort erträgt es möglichst keine Einschränkungen seiner Intentionen – ich denke beispielsweise an den Bildhauer, der seine ganz eigenen Figuren, fern von jedem Naturalismus entwirft. Mehrheitsbeschlüsse haben in seiner Arbeit nichts zu suchen. Das Urteil eines Individuums muss in jedem Fall ernst genommen werden, ob man es nun selber nachvollziehen kann oder nicht. Insofern das Individuum aber auch ein soziales Mitglied der Gesellschaft ist, muss es sich selber zumindest die Frage gefallen lassen, wie es den Mehrheitsbedürfnissen gerecht werden wolle, insbesondere dann, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, dass es andere Menschen schädigt. In diesem Moment braucht es einiges mehr an sozialer Phantasie als lediglich ein trotziges «Ich nicht!».
Widerstand
Es gibt unterschiedliche Arten von Widerstand gegen die Pandemie beziehungsweise gegen staatliche Stellen, die sich mit ihr auseinandersetzen.
A. Schon ganz am Anfang tauchte die Haltung auf, das, was als Pandemie bezeichnet wurde, auf die leichte Schulter zu nehmen. So sah beispielsweise der Arzt Wolfgang Wodarg Corona als gewöhnliche Grippe (März 2020). Anfang April 2020 formulierte ein Freund: «Als Epidemie ist Corona offensichtlich nicht das, was man einmal erwartet hat.» Ich fragte mich damals: wie kann man jetzt schon ein solches Urteil fällen? Die erfahrene oder scheinbare Diskrepanz zwischen Krankheitsphänomenen und Massnahmen führte viele Zweifelnde, eine sehr heterogene Gruppe von Menschen, in die grossen Demonstrationen. Von (vor allem linken) Kritikern auf der gouvernementalen Seite wurden diese kurzerhand in einer nicht näher definierten rechtsextrem-esoterischen Ecke positioniert. Mit sozialwissenschaftlichen Befunden hatte dies wenig zu tun.
B. In einer späteren Phase «erbarmten» sich politisch weit rechts stehende Gruppen und Parteien dieser verunsicherten Menschen. In Berlin verteilten sie den arglosen Demonstrierenden grosszügig Reichsbürgerflaggen. Für denkbare Diskurse über die Fronten hinweg war und ist dies fatal. Wenn heute Nicht-Impfer kritisiert werden, dann erscheinen sie (z.B. in der WochenZeitung) nie als Einzelne, sondern immer nur als Bestandteil der national-konservativen Demos vor allem auf dem Berner Bundesplatz. Die politische Polarisierung verhindert eine differenziertere Sicht auf unterschiedliche Motive und Menschen.
C. Oben habe ich das trotzige «Ich nicht!» erwähnt. Das könnte auch die Bezeichnung für eine Gruppe von Menschen sein, die sich eher als Einzelne mit dem Geschehen und den staatlichen Massnahmen auseinandersetzen. Verständlicherweise sind sie in der Defensive. Viele von ihnen versuchen, ein Leben möglichst ausserhalb des Infektionsgeschehens zu leben. Das mag auch dazu beitragen, dass sie für das Infektionsgeschehen wenig relevant sind. Es handelt sich weder um Partygänger noch um Event- oder Stadionbesucher. Die «Ich nicht»-Haltung entbindet allerdings nicht von der Aufgabe, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie eine Gesellschaft mit einer Bedrohung fertig werden kann, die die Kräfte jedes Einzelnen übersteigt.
D. Besonders unbefriedigend ist das latent widerständige Verhalten derjenigen Menschen und Institutionen, welche die Massnahmen sehr unwillig und damit schlecht umsetzen, ohne dies einigermassen deutlich begründen zu können – vielleicht nicht einmal sich selber gegenüber. Mit ihrem Verhalten prägen diese Institutionen auch die Haltung in ihrem Einzugsbereich. Dies kann sich rächen. Ich denke an jenes Altenheim, in welchem ich mich mit einer Bewohnerin im Restaurant (mit Zertifikatspflicht) zum Mittagessen getroffen hatte. Sie war nicht geimpft. Wir konnten trotzdem zusammen essen. Auch in anderen Bereichen dieser Institution schienen mir die Regeln recht unscharf. – Einige Wochen später musste das ganze Altenheim mitsamt Geschäftsführer in Quarantäne versetzt werden.
Zum Abschluss nochmals mein Anliegen
Man mag über den aktuellen Seuchenzug, die dagegen ergriffenen Massnahmen und das Verhalten von Gruppen, Parteien und Staat noch und noch diskutieren. Das sollte einen aber nicht davon abhalten darüber nachzudenken, welches die richtigen Massnahmen in einem wirklichen, neuen Ernstfall sein müssten. Selbst wenn man die jetzige Situation nur als scheinbaren oder aufgeblasenen Fall ansieht, kann und muss man es als möglich ansehen und darüber nachdenken, was zu überlegen und wie zu handeln wäre. Solches wäre bedeutend produktiver als die Energieverschwendung in nie endenden Diskussionen.
Überschätzte Macht des Staates?
Stellungnahme von Dr. Karl Weber, (Prof.em.)
In seinem breit gefächerten Beitrag „Der schützende Staat und das souveräne Individuum“ wirft Matthias Wiesmann (MW) Fragen auf, die den gesellschaftlichen Umgang mit Grossrisiken betreffen. Die Relevanz der verschiedenen Fragen begründet er mit einer kritischen Analyse der aktuellen Pandemiesituation und dem Verhalten des Staates.
An dieser Stelle will ich nicht bestreiten, dass die Gesellschaft und ihre Akteure lernen sollten, Risikofragen sinnvoll anzugehen. Mehr noch: Wenn ich die Lage im Umweltbereich richtig einschätze, werden von uns künftig (aus Einsicht?) erhebliche individuelle Einschränkungen und wohl auch Verzichte abverlangt. Diese werden weit über das hinausgehen, was wir heute erleben. In der Pandemie könnten wir daher gegenwärtig einüben, wie wir künftig im Kontext einer nachhaltigen Umweltpolitik individuelle Freiheitsbeschränkungen begründen und mit angemessenen Massnahmen umsetzen wollen.
Bei der Lektüre des Textes von MW bin ich über einige Passagen gestolpert, die mich nicht überzeugen und deren Inhalt zu bedenken wäre:
MW fokussiert stark den Gegensatz Staat/Mehrheit versus Individuum. Der Staat bedroht im Namen der Mehrheit die Freiheiten und Verantwortlichkeiten des Individuums und setzt dieses in der Impffrage stark unter Druck. Erstens ist zunächst festzuhalten, dass der Staat hierzulande kein homogener Akteur ist. Er konstituiert sich aus dem Bund, den Kantonen und Gemeinden. Die Handlungslogiken auf diesen drei Ebenen variieren in der Regel. Und exakt diese föderalistische Struktur sorgt dafür, dass der Tyrannis der Mehrheit Grenzen gesetzt werden. Zwar mögen die Bundesgesetzgebung oder Beschlussfassungen auf dieser Ebene sich oft von vereinheitlichenden/standardisierten Wünschen leiten lassen. Der entsprechende Vollzug der Beschlüsse auf der nachgeordneten Ebene wird jedoch faktisch - wie gut dokumentiert ist – sehr unterschiedlich gestaltet. Dies war und ist auch in der Pandemiefrage der Fall (vgl. bspw. Massnahmen im Bildungsbereich). Wir wissen auch, dass das Raumplanungsgesetz in den Kantonen sehr unterschiedlich umgesetzt wird (Stichwort: Abschöpfung des Mehrwertes). Ähnliches gilt für den kantonalen Vollzug der Arbeitslosenversicherung mit ihren beiden Funktionen „Arbeitsmarktintegration“ und „Kontrolle“. Zweitens ist nicht zu übersehen, dass jene, die eine Impfung befürworten, eine sozial differenzierte Gruppe sind. Ihre Mitglieder haben teilweise ganz unterschiedliche Haltungen und Motive. Strukturell gilt für sie Ähnliches wie für die Impfkritischen. Somit scheint mir auch der von MW verwendete Begriff „Mehrheit“ nicht angemessen, auch nicht in Kombination mit dem „Staat“. Diese Begrifflichkeit erzeugt irreführende Bilder. Drittens haben in der Pandemie die Bundes- und kantonalen Behörden in ihrer Sprachregelung in der Begriffswahl die „Selbstverantwortung“ stark gemacht. Sie haben auf die Individuen und ihre Rechte Bezug genommen. Persönlich finde ich diese Sprachregelung einäugig und problematisch, weil sie einen individuellen Widerstand gegen Impfungen leicht zu legitimieren hilft. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoller gewesen, von Selbst- und Mitverantwortung zu sprechen.
Die Lektüre der Analyse von MW vermittelt mir weiter den Eindruck, die Impfskeptischen seien einer Übermacht des Staates und der Mehrheit und der diese unterstützenden Medien ausgesetzt. Die letzteren nähmen - von „klitze kleinen“ Ausnahmen abgesehen - keine kritische Funktion wahr. Führt man sich jedoch innerlich vor Augen, was in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit alles passiert ist, komme ich eher zum Schluss, dass die impfskeptische Minderheit ziemlich viel Macht entfalten und auch eine tolerante Polizei erleben konnte: Die Skeptiker und Skeptikerinnen führten in vielen Städten unbewilligte Demonstrationen durch ohne rechtlich behelligt zu werden. Man erinnere sich: In Bern wurden bspw. vor einiger Zeit jugendliche Klimademonstranten und -demonstrantinnen vor dem Bundeshaus weggetragen, weil ihre Demonstration nicht bewilligt war. Ähnliches ist Protestierenden vor der CS in Zürich passiert. Und wer sich heute im öffentlichen Raum bewegt und den Briefkasten seiner Wohnung leert, wundert sich, mit welchen Fakenews (und mit wieviel Geld) für das Covidreferendum geworben wird. Mindestens einzelne Gruppen der Impfskeptischen können sicher nicht als ohnmächtig bezeichnet werden. Sie sind artikulations- und organisationsfähig und bereit zu provozieren. Erstaunlich ist eher, wie gut es ihnen gelingt, in kurzer Zeit den Ruf der politischen Behörden zu diskreditieren. Auch für Politologen und Politologinnen ist dies offensichtlich überraschend und eher neu.
Die unzureichende wissenschaftlichen Fundierung des Handelns der staatlichen Akteure in der Pandemiefrage kritisch unter die Lupe zu nehmen, ist nicht schwierig. Covid hat für unsere Gesellschaft den Charakter eines unfreiwilligen, nicht angekündigten Experimentes. Dies bedeutet, dass sich ein empirisch - und evidenzbasiertes Verständnis von Ursachen und Folgen dieser Pandemie logischerweise nur mit der Dauer der Pandemie entwickeln und ausdifferenzieren kann. Es ist unvermeidlich, dass der entsprechende Diskurs daher mit grossen Unsicherheiten konfrontiert ist. Die Konsolidierung von covidrelevantem Wissen ist schwierig und war in den ersten Monaten gar nicht möglich. Präzisierungen, Revisionen, Neueinschätzungen, aber auch gewisse Kontinuitäten prägen daher die wissenschaftlichen und wohl auch politischen Einschätzungen von Pandemiefragen. Und es versteht sich von selbst, dass dieser Diskurs nicht kompatibel ist mit individuellen a priori Gewissheiten, wie zum Beispiel der Vorstellung, dass ein gutes Immunsystem eine Ansteckung mit dem Virus verhindert.
Die Behörden haben in der öffentlichen Kommunikation oft Daten benutzt, um über die Ausbreitung und einzelne Folgen von Covid zu informieren. Dabei haben sie wohl daraufgesetzt, dass quantitative Daten und Zahlen per se plausibel und überzeugend sind. Diese Kommunikationspraxis finde auch ich fragwürdig. Ich gehe davon aus, dass die Basisqualität vieler Daten vermutlich nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Dies gilt jedoch vermutlich nicht für die Daten zur Auslastung in den Spitälern und zur Belastung des Personals. Die sind ja leicht zu erheben. Anders als für MW spiegeln sich für mich in den kommunizierten Daten jedoch nicht der Wille der staatlichen Akteure zur Angstmacherei, sondern eher die grundsätzlichen Schwierigkeiten während eines ungeplanten Experiments verlässliche und belastbare Daten zu generieren. Da ich selber früher oft mit Daten des Bundesamtes für Statistik gearbeitet habe, weiss ich wovon ich spreche.
Kritisch äusserst sich MW auch zu den Impfstoffen. Weil diese in „unvorstellbar kurzer Zeit“ entwickelt wurden, bezweifelt er ihre Qualität. Ich glaube, es ist problematisch aus der Kürze der Entwicklungszeit für die Impfstoffe auf die Qualität zu schliessen. Erstens ist allgemein der Zeitabstand zwischen Forschung/ Entwicklung und Anwendung in den meisten Wissensgebieten kürzer geworden. Dies hängt u.a. mit der gewaltigen Expansion und Differenzierung der Wissenschaften weltweit und der Vergrösserung der konsolidierten, transnationalen Wissensbestände zusammen. Neue Entwicklungen können heute an einer vielfältigen Wissensstruktur anschliessen. Eine Risikobeurteilung der Impfstoffe muss zudem auch unter fachlichen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Ich selber kann als Aussenstehender und Nichtfachmann nicht beurteilen, wie „revolutionär“ der Impfstoff tatsächlich ist. Wurden mit dem Impfstoff bestehende Grenzen zwischen wissenschaftlichen Gebieten überschritten oder wurden bekannte Wissensbestände bloss neu kombiniert? Und welches wären die Folgen für den Zeitbedarf der Entwicklung? Solche Fragen lassen sich nur mit spezifischem Fachwissen beantworten. Es kann auch sein, dass der Impfstoff aus Marketinggründen als revolutionär kommuniziert wird. Dass er jedoch wirksam ist, dürfte unbestritten sein. Sein millionenfacher Einsatz zeigt auch, dass sich kurzfristige Nebenwirkungen sehr in Grenzen halten. Dass über die Langzeitfolgen keine evidenzbasierten Daten vorliegen können, liegt in der Natur der Sache.
19. November 2021