Leonardo Sciascia: Ein Sizilianer von festen Prinzipien
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- Erstellt: Freitag, 23. Juli 2021 14:59
Goethe in Sizilien.
Tatsächlich fällt auf, wie selektiv der Goethe, der «von vielerlei Geistern verfolgt und versucht wird» (Goethe über sich selber), Sizilien wahrnimmt. Von einem Universalgelehrten hätte man vielleicht erwartet, dass er sich auch ein wenig den gut tausend Jahren der nachgriechischen Zeit zuwendet. Doch Sizilien ist – für Goethe – einerseits griechische Kultur, andererseits Natur, insbesondere Botanik und Geologie. Am 17. April 1787 kam er im botanischen Garten in Palermo der Idee der Urpflanze ganz nah. Eine Woche davor hatte er Monreale, das Kloster oberhalb Palermo, besucht, das heute täglich von Tausenden besichtigt wird. Denn dort steht eine vom Normannenkönig Wilhelm II in Auftrag gegebene und im 12. Jahrhundert erbaute Kirche. Spektakulär sind die Mosaiken im byzantinischen Stil (Detail siehe Abbildung) mit dem gewaltigen Christus als Pantokrator in der Apsis – vergleichbar der anderen normannischen Kirche in Cefalù. Doch Goethe schreibt kein Wort von dieser Kirche – so, wie die Geschichte Siziliens der nachgriechischen Zeit für Goethe insgesamt kein Thema war. Selbst die Gegenwart des Jahres 1787 nimmt sich seltsam blass aus. Er erzählt von einem Essen, das er an der Seite des Vizekönigs einnahm. Dessen Namen (Domenico Caracciolo) erwähnt er nicht. Hatte er das politische Spannungsfeld, in welchem dieser stand, der fünf Jahre zuvor die Inquisition abgeschafft hatte und selber zwei Jahre nach Goethes Besuch abgelöst worden ist, nicht wahrgenommen? Caracciolo, dieser neapolitanische Intellektuelle und Kosmopolit, der Botschafter in Paris gewesen war und französische Aufklärer zu seinen Freunden zählte, passte nicht in das sizilianische Feudalsystem der Barone und Herzoge.
Johann Gottfrie Seume: Spaziergang nach Syracus
Allerdings stellen wir auch in Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus aus dem Jahr 1802 fest, dass das ganze Interesse der gebildeten Besucher jener Zeit dem klassischen Altertum gehörte. Die Schilderung der Schlachten durch die klassischen Geschichtsschreiber hatte Seume offenbar detailliert vor Augen, zum Beispiel als er die Landschaft bei Syrakus betrachtete: «Hinter uns lag der mons crinitus, wo die Athenienser bei der unglücklichen Unternehmung gegen Sizilien standen. Dort unten rechts an der alten Mauer, welche die Herren von Athen umsonst angriffen, stand das Haus des Timoleon, wo man bei der kleinen Mühle noch die Trümmer zeigt. Links hier unten brach Marcellus herein, drang dort hervor bis in die Gegend des kleinen Hafens, wo der schöpferische Geist Archimedes mit dem Feuer des Himmels seine Schiffe verzehrte ... »
Diese Fixierung auf das klassische Altertum können wir den gebildeten «Touristen» vor über 200 Jahren allerdings nicht verargen. Wer heute nach Ägypten reist, wird sich ja auch primär für Pyramiden und Tempel und nicht für die Jahrtausende danach interessieren. Hinzu kommt, dass die Epoche des Mittelalters überhaupt erst zur Zeit der Romantik zu interessieren begann.
Sizilien! Welche Assoziationen weckt der Name dieser Insel am südlichen Ende Italiens?
Leonardo Sciascia füllt mit seinen Erzählungen aus der Zeit des 16. bis zum 18. Jahrhundert also eine Lücke. Sciascia wurde in Racalmuto, einem Städtchen nordöstlich von Agrigent auf Sizilien geboren. Wenn wir bei der Nennung Siziliens bald einmal an die Mafia denken, so ist dieser Gedanke In Bezug auf Leonardo Sciascia nicht abwegig. Davon wird die Rede sein. Aber Sciascia war auch Historiker. Die Erzählung oder der historische Bericht Tod des Inquisitors greift den Prozess gegen einen Mönch auf. Dabei wird sichtbar, dass es spanische Inquisitoren sind, die zu jener Zeit in Sizilien ein Machtzentrum darstellten. Wenn man noch weiter in der Geschichte dieser Insel zurückgeht, sieht man immer wieder andere Mächte und Kulturen dominieren. Dies zu verstehen ist wohl dann am einfachsten, wenn man sich Sizilien als ein Zentrum der alten Welt vorstellt. Diese Welt war das Mittelmeer und Sizilien liegt mittendrin. Selbstverständlich setzten sich in ganz frühen Zeiten die Phönizier auf der Insel fest. Die griechische Kultur, die wir der Einfachheit halber meist nur mit Griechenland assoziieren, war genauso auf Sizilien zuhause. Gewaltige Tempelruinen legen davon Zeugnis ab. Während uns die Präsenz des Islam in Spanien sehr vertraut ist, wissen wir von seinem Einfluss in Sizilien in der Regel sehr wenig. Der maurische Einfluss in Kunst und Architektur ist aber unübersehbar. Und dann kamen die Normannen als Eroberer. Grosse Kirchenbauten sind unter ihrem Einfluss entstanden. Schliesslich kamen die Spanier, die Sizilien vor den Ketzern bewahren wollten. Derweil beherrschte eine Feudalklasse Wirtschaft und Gemeinwesen und sorgte dafür, dass an den archaischen sozialen Verhältnisse möglichst nichts änderte. Im Unterschied zu weiten Teilen Europas erreichten die französische Revolution beziehungsweise Napoleon Sizilien nicht richtig. Ist es verwunderlich, dass die von allen Mächten unterdrückte Bevölkerung Organisationsformen und Überlebenstechniken entwickelten, die unabhängig von den staatlichen oder kirchlichen Herrschaftsstrukturen funktionierten und noch funktionieren?
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