Eigentum und Nutzungseigentum

«Murnau mit Kirche II», das seit 1951 im Van Abbemuseum in Eindhoven hängt, wird restituiert. Der Wert des Bildes wird auf 45 Millionen geschätzt. Es wird am 1. März in London beim Auktionshaus Sotheby’s zur Versteigerung angeboten. Der schliesslich gelöste Preis kann durchaus weit über den erwähnten 45 Millionen liegen. Er soll unter den dreizehn Erben aufgeteilt werden.

Das Bild «gehörte einst dem jüdischen Ehepaar Siegbert Samuel und Johanna Margarete Stern. Siegbert Samuel Stern war ein Berliner Textilunternehmer und Mitgründer der Textilfirma Graumann & Stern im Herzen von Berlin. Das Ehepaar verkehrte in den zwanziger Jahren in illustren Kreisen, zu welchen Thomas Mann, Franz Kafka, Martin Buber und Albert Einstein zählten. Insbesondere Johanna Margarete Stern war der modernen Kunst zugeneigt. Sie erwarb Kandinskys Ansicht des bayrischen Bergdorfes Murnau kurz nach deren Entstehung. Sterns trugen eine stattliche Sammlung alter und moderner Kunst zusammen. Die rund hundert Werke umfassten sowohl Malerei und Zeichnungen der niederländischen Malerei des Goldenen Zeitalters als auch Arbeiten der klassischen Moderne von Meistern wie Pierre-Auguste Renoir, Lovis Corinth, Odilon Redon, Max Liebermann, Edvard Munch und Max Pechstein. Mit der Machtübernahme der Nazis veränderte sich das Leben der Sterns dramatisch. Siegbert Samuel Stern starb 1935 zwar eines natürlichen Todes, seine Frau aber entging nicht dem Holocaust. Sie flüchtete über Süddeutschland und die Schweiz, wo sie ihren Bruder besuchte, in die Niederlande. Ihre Sammlung konnte sie dank der Unterstützung ihres Sohnes Hans mitnehmen. Als die Nazis die Niederlande besetzten, wurde Johanna Margarete Stern zur staatenlosen Person erklärt. Für ein ihr in Aussicht gestelltes Visum zur Emigration übergab sie der Dienststelle Mühlmann ein Porträt des französischen Künstlers Henri Fantin-Latour. Kajetan Mühlmann war einer der erfolgreichsten Kunsträuber der Nazis. Das Visum erhielt sie nie, und bald sah sie sich gezwungen, einen Grossteil der familieneigenen Sammlung zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. 1942 begab sie sich ausserhalb Amsterdams in ein Versteck. Dennoch wurde sie 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.» (NZZ 24.2.2023)

«Zur Versteigerung des Kandinsky-Werks sagen die Erben: ‹Auch wenn vergangenes Leid nicht ungeschehen gemacht werden kann, bedeutet uns die Restitution dieses Bildes, das einst unseren Urgrosseltern gehört hatte, viel, da sie nun teilweise eine Wunde zu schliessen vermag, die über Generationen offen geblieben war.›» – Wieviel Geld braucht es, um Wunden zu schliessen?

Der NZZ-Berichterstatter Philipp Meier schliesst seinen Bericht mit dem folgenden Hinweis ab:

«Dieses Jahr markiert das 25-jährige Bestehen des Washingtoner Abkommens. Die Vereinbarung von 1998 verpflichtet dazu, im Fall von im Nationalsozialismus verfolgungsbedingt entzogenen Kunstgegenständen ‹faire und gerechte Lösungen› anzustreben.»

Gerecht und fair?

Im Rahmen des Eigentumsbegriffs, wie ihn die bürgerlich-liberale Gesellschaft in den letzten zweihundert Jahren entwickelt hat, ist die anvisierte Auktion und Verteilung unter die dreizehn Urenkel des bestohlenen Eigentümerehepaars zweifellos gerecht. Auf andere Gedanken kann man kommen, wenn man nicht nur mit abstrakten Rechtsbegriffen hantiert, sondern sich vor Augen führt, was da geschieht.

Dieses Bild war nun über siebzig Jahre lang in einem Museum öffentlich zugänglich. Als Teil eines Museumsbestands war es gewissermassen Gemeingut. Es gehörte niemandem beziehungsweise allen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass erneut ein Museum die entsprechenden Mittel einsetzen kann, um das Bild weiterhin der Öffentlichkeit zu erhalten. Allenfalls wird sich ein Museum in einem Ölstaat ein solches Prestige-Objekt leisten können. Wahrscheinlicher ist, dass dieses Bild in der Residenz eines Oligarchen oder in einem Tresor landen wird.

Der Aspekt der Gerechtigkeit wird dadurch geregelt sein, dass jeder der Erben einige Millionen Franken erhalten wird und damit Wunden schliessen kann. Und der Aspekt der Fairness, wie er im Washingtoner Abkommen erwähnt wird? Kann die kulturell interessierte Öffentlichkeit keine Ansprüche auf das kulturelle Erbe geltend machen?

In jedem Bereich kulturell-geistiger Produktion gibt es Schutzfristen. Patente, Autorenrechte erlöschen. Danach dürfen die Ergebnisse geistiger Produktion frei verwendet werden. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass Kunstwerke zum Beispiel nach hundert Jahren nach Entstehung automatisch in öffentlichen Besitz übergehen müssten.

Die Probleme, die sich stellen, lassen sich nicht mit den gegebenen Rechtsbegriffen lösen. Die Restitution des Kandinsky-Werks würde ganz anders wirken, wenn wir lesen würden, die Erben hätten vereinbart, dass das Bild reihum immer ein Jahr lang in einer ihrer dreizehn Wohnungen aufgehängt werden solle – ihnen sei das Bild wichtig, verbunden mit der Erinnerung an die Urgrosseltern. Der Geld-werte Eigentumsbegriff würde durch den Aspekt eines Nutzungseigentums ersetzt – Haben durch Sein. (Erich Fromm: «Da wir in einer Gesellschaft leben, die sich vollständig dem Besitz- und Profitstreben verschrieben hat, sehen wir selten Beispiele der Seinsorientierung; die meisten Menschen sehen die auf das Haben gerichtete Existenz als die natürliche, faktisch einzig denkbare. All das macht es besonders schwierig, die Eigenart der Seinsorientierung zu verstehen.»)

Wenn Christoph Blocher seine Villa in Herrliberg mit Bildern von Albert Anker schmückt, hat dies sehr viel mehr mit «Sein» zu tun, als wenn dieselbe Sammlung vom selben Eigentümer in einen Tresor der UBS eingeschlossen worden wäre. Ähnliche Überlegungen gelten für produktives Eigentum, einem Stolperstein in der Erbrechtsdebatte: Es ist ein relevanter Unterschied, ob ein Unternehmer seine wirtschaftliche Tätigkeit selber führt und diese eines Tages an Sohn oder Tochter zur Weiterführung übergibt, oder ob die Nachkommen lediglich die Aktien übernehmen und nur noch durch Dividendenzahlungen mit der Unternehmung verbunden sind. Gleiches gilt für Immobilien: handelt es sich um selbst bewohntes oder zumindest betreutes (verwaltetes) Eigentum oder um ein Renditeobjekt?

Die Beispiele zeigen, dass ein Begriff des Eigentums, der vom Leben, von den Umständen, insbesondere von der Nutzung abstrahiert, problematisch ist. Natürlich ist es anspruchsvoll, den Aspekt des Seins, des Lebens im Zusammenhang mit Eigentum in eine justiziable Form zu bringen. Das geschieht allerdings bereits in der Steuerpraxis. Dies machte die Steuerverwaltung Zug deutlich, als sich Daniel Vasella nach Monaco abmeldete, um dort der Steuerpflicht zu entgehen, während er seinen Lebensmittelpunkt am Zugersee beibehielt. Er wurde zur Steuerzahlung in Zug verknurrt.

Altersvorsorge oder Frauen ?

Zu Beginn ein paar Fakten, ein Disclaimer und eine Gegenrede

Fakten. Bei der Einführung der AHV galt für beide Geschlechter das Rentenalter 65. Erst später beschlossen die Männer (die Männer! Frauen waren noch nicht stimm- und wahlberechtigt) mit teilweise paternalistischen Begründungen (schwaches Geschlecht und so) die Absenkung des Rentenalters zuerst auf 63, dann auf 62 Jahre. Mit der 10. AHV-Revision 1995 wurde das Rentenalter einerseits flexibilisiert und andererseits dasjenige der Frau schrittweise auf 64 angehoben.

Die AHV ist so etwas wie ein gemeinsamer Vorsorgetopf aller Erwerbstätigen. Gemäss der AHV-Statistik für 2021 kamen 34 Prozent aller Beiträge von den Frauen, und 55 Prozent der Rentenleistungen gingen an Frauen. Aufgrund der unterschiedlichen Lebenserwartung (mit 65 Jahren: Männer 19.3 Jahre, Frauen 22.2 Jahre) beziehen Frauen derzeit 3.9 Jahre länger Rente als Männer; beim Pensionierungsalter von 65 wären es immer noch 2.9 Jahre. Per saldo werden Frauen auch in Zukunft mehr Geld aus dem AHV-Topf beziehen, als Männer.

In der betrieblichen Vorsorge (2. Säule, BVG), die nicht Gegenstand der bevorstehenden Abstimmung ist, liegen die Frauen-Renten etwa 1/3 tiefer als Männerrenten. Die Gründe sind bekannt (u.a. reduzierte Arbeitspensen und damit Löhne).

Disclaimer. Einerseits: Unter einigen Gesichtspunkten stelle ich fest, dass wir Männer uns in der Schuld der Frauen befinden. (Unter anderen Gesichtspunkten gilt das Umgekehrte.) Andererseits: Zweifellos sehe ich, dass es für die Betroffenen zu schmerzhaften Verlusterfahrungen führt, wenn ihre Einkommensperspektiven im Alter von 64 Jahren zu ihrem Nachteil verändert werden. (Solche Erfahrung trifft alle bei der Absenkung des Umwandlungssatzes in der 2. Säule.)

Gegenrede. Die angesprochenen Fakten, insbesondere die finanzielle Bevorteilung der Frauen in der Vergangenheit und etwas weniger in der Zukunft (in der AHV) einerseits und die tieferen Frauen-Renten in der 2. Säule andererseits sind keine Grundlage dafür pauschal zu behaupten, die geplante Reform würde «auf dem Buckel der Frauen» durchgeführt.

Meine Gegenposition

In Bezug auf die AHV sprechen die Fakten bereits eine deutliche Sprache. Das Argument mit dem «Buckel» ist schwach bis falsch. Wohl deshalb wird die 2. Säule immer wieder in die derzeitige AHV-Diskussion einbezogen. Nur so lässt sich das Argument der tieferen Frauenrenten aufrechterhalten. Auch aus meiner Sicht muss die 2. Säule in die Diskussion einbezogen werden, aber nicht opportunistisch-verdeckt, um die gängige Ungleichberechtigungsthese zu stützen, sondern grundsätzlich und transparent, um das Konzept der Altersvorsorge in Frage zu stellen. Damit meine ich erstens: Die 2. Säule ist skandalös ineffizient. Ein Rentenfranken der 2. Säule kostet 30 Mal mehr als ein Rentenfranken der AHV (weil die AHV fast keine «Geldaufbewahrungskosten» hat). Dreissig Mal! Um es zu verdeutlichen: Das ist, wie wenn das eine Paar Schuhe im Schuhgeschäft mit 200 Franken angeschrieben wäre, ein gleiches daneben mit 6000 Franken. Zweitens: Die 2. Säule ist nicht nur ineffizient, sondern auch schädlich, weil die gigantische Kapitalmenge, die durch die 2. Säule eingesammelt wird u.a. Immobilienpreise in die Höhe jagt und die Börsen anheizt – beides mit dem Risiko des Platzens von Blasen. Es nützt zum Beispiel überhaupt nichts, wenn Rentner von Immobiliengewinnen leben dürfen, dafür aber mit kaum mehr bezahlbaren Mietpreisen konfrontiert sind. Angesichts dieser Situation kann es nur eine Entwicklungsrichtung geben: Die AHV, das Umlageverfahren, muss weiterentwickelt, die 2. Säule muss gebremst werden. Dieses Ziel ist von unvergleichbar grösserer Bedeutung als die ziemlich hinkende These der Ungleichberechtigung (siehe oben Fakten). Es ist eine fahrlässig verpasste Chance, wenn eine Altersvorsorge-Debatte geführt wird, ohne dass nachdrücklich auf diese Systemmängel hingewiesen wird.

Schräge Debatte

So weit einige inhaltliche Gesichtspunkte. Was mich allerdings ebenso stört, ist die Art und Weise, wie die Argumentation in dieser Debatte geführt wird. Dass Abstimmungskämpfe offenbar nur mit Emotionalisierung zu gewinnen sind, muss man wohl hinnehmen. Wo sind die Grenzen? Die Linke scheut sich nicht, bürgerliche Kampagnen mit völlig unzulänglichen Informationen und Angstmacherei nachzuahmen – mit den folgenden Strategien:

Emotionalisierung / Frauenthema: Rein rechnerisch / finanziell ist die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern (bezahlt von den Männern) derart deutlich, dass das Stichwort der «Reform auf dem Buckel der Frauen» ohne wenigsten einen summarischen Hinweis auf die Fakten äusserst fragwürdig ist. Wenn es um die Altersvorsorge geht, dann verteidigt die Linke die Privilegien der Frauen in der AHV, statt die Situation für alle zu verbessern. Kann man eine solche Position als sozial-demokratisch bezeichnen? Mit gutem Grund sehen sich Männer in einiger Beziehung in der Schuld der Frauen. Daraus resultiert ein oft nicht einmal bewusstes, latent schlechtes Gewissen – mindestens bei denen, die sich mindestens ein wenig als «woke» sehen. Das schlechte Gewissen lässt sich mit dem Argument der Ungleichbehandlung bestens ansprechen. Gerade deshalb wäre an dieser Stelle eine transparente und vollständige Argumentation umso mehr am Platz. Schlechtes Gewissen sollte nie ausgebeutet werden, auch im Interesse «höherer Ziele» nicht.

Emotionalisierung / Angstmacherei ist ein besonders häufig anzutreffendes Muster bürgerlicher Kampagnen. (Besonders häufig wird mit der Abwanderung von Steuerzahlern oder Unternehmen Angst verbreitet.) Wenn derzeit mit dem kommenden Pensionsalter 67 gedroht wird, falls dem Frauenrentenalter 65 zugestimmt wird, dann ist das noch eher an den Haaren herbeigezogen, als die Drohung damals der Abwanderung von Konzernen bei Annahme der Konzernverantwortungsinitiative. Denn ein sachlicher, kausaler Zusammenhang besteht hier nicht – ausser man huldige der reaktionären Devise zu Zeiten der Jugendunruhen: «Wehret den Anfängen!».

Scheinbarer Deal: Immer wieder ist (von Frauen) zu hören: Ich bin erst für gleiche Renten, wenn die Gleichstellung von Mann und Frau erreicht ist. Das klingt nach Deal und wirkt durchaus fair. Diese Vorgehensweise ist in der Politik nicht unüblich. Zu fragen ist jedoch: Ist es legitim, dass eine Forderung erhoben wird, die von keiner gesellschaftlichen Gruppe allein oder zusammen mit einzelnen anderen Gruppen eingelöst werden kann? Gesellschaftliche «Deals» bestehen darin, dass man etwas gibt, um etwas anderes zu erhalten. Niemand kann allerdings in einem politischen Deal Gleichstellung versprechen. Gleichstellung ist das Resultat eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, für den man sich einsetzen, dessen Zielerreichung aber von niemandem versprochen werden kann. Deshalb eignet es sich auch denkbar schlecht als Faustpfand.

Lockerer Umgang mit Fakten: Immer wieder wird die Notwendigkeit von zusätzlicher Finanzierung in Frage gestellt und den Bürgerlichen Angstmacherei vorgeworfen. Immer wieder hätten die Prognosen schlechter ausgesehen als schliesslich das Ergebnis – ähnlich etwa Jacqueline Badran in einem WOZ-Interview. Ebenfalls in der WOZ hingegen Redaktor Yves Wegelin: «Dass die AHV zusätzliche Mittel braucht, ist unbestritten.» Sicher gibt es unterschiedliche Budgetierungsstile. Ich selber tendierte immer zu vorsichtiger Budgetierung und liess mich gerne durch ein besseres Ergebnis überraschen. Ich würde diesen Stil jedem raten, der Verantwortung trägt. Doch wer es sportlich mag, Autofahrer oder Finanzverantwortlicher, fährt lieber an der Grenze des Riskierbaren und nimmt in Kauf, dass er über die Kurve hinausgerät und einen Crash verursacht. Während beim Autofahrer die Schuldfrage schnell beantwortet ist, nehmen die Befürworter ambitiöser Budgetierungspraktiken in der öffentlichen Debatte kein Risiko auf sich. Tatsache ist jedenfalls, dass der AHV-Fonds derzeit nach einem Rekord-Börsenjahr nur deshalb mit einem im Vergleich zu den ausbezahlten Renten relativ kleinen Überschuss dasteht, weil mehrfach Zusatzfinanzierungen (zu den Arbeitnehmer-/Arbeitgeber-Beiträgen) beschlossen worden sind. (Umlageüberschuss 2021 ca. 0.5%, Betriebsergebnis v.a. aufgrund Börsengewinnen ca. 2.5% – solche Gewinnlein können schnell verschwinden.))

Mehrwertsteuer als Finanzierungsquelle

Dass die Mehrwertsteuer die unsozialste Variante für eine AHV-Finanzierung ist, gilt als ausgemachte Sache – unsozial, weil Reich und Arm gleich viel bezahlt, keine Progression. Gleich viel? Prozentual ja, nominal nur wenn sie gleich viel konsumieren würden. Doch diese Debatte müsste in anderem Zusammenhang geführt werden. Zu fragen wäre vor allem: Gäbe es nicht innerhalb der Mehrwertsteuer auch Differenzierungsmöglichkeiten? Zum Beispiel: Abhängig von der Steuererklärung / -einschätzung werden Steuerzahlende mit Einkommen unter einer bestimmten Grenze mit einer «Mehrwertsteuer-Karte» ausgestattet. So wie die Kunden von Coop und Migros an der Kasse ihre Rabattkarten zücken, könnten die Inhaber der Mehrwertsteuer-Karte ihre Karte einlesen lassen, worauf die Mehrwertsteuer von der Software der Ladenkasse reduziert oder ganz weggerechnet wird. Weitere Ideen zur Kompensation der Mehrwertsteuer bei tiefen Einkommen verkneife ich mir hier.

Abschied von der Schlagwortpolitik

Die Idee mit der Mehrwertsteuer-Karte habe ich hier nur skizziert um anzudeuten, dass das defensive Schlagwort der unsozialen Mehrwertsteuer durch etwas Phantasie und alternative Lösungsvorschläge ersetzt werden könnte. Das würde aber einen Abschied von der immer gleichen Schlagwortpolitik bedeuten. Ob man auf solches hoffen kann? Derzeit scheint mir eher, dass die Linke mit einem Mangel an Phantasie und proaktiver Argumentation diejenigen Ziele aus den Augen verliert, die eigentlich zu verfolgen wären – im Fall unseres Themas hier: das Ziel einer effizienten und möglichst unschädlichen Altersvorsorge. (Vielleicht macht sie das zur Verliererpartei.) Das Thema der Gleichberechtigung der Frauen müsste deswegen nicht vernachlässigt werden.

Kulturreise?

K Plakat 

Kultur-Reisen sind meist Subkultur-Reisen. Subkultur ist das, was benannt werden kann, was man abbilden kann. "Konzertfestwoche" oder "Volksmusikfestival" weisen auf Subkulturen hin. Auch "Oktoberfest" oder "Pride Parade", "Spitzenarchitektur" oder "Holzhandwerk".

Tourismuswerbung hat nichts mit Kultur am Hut, umso mehr mit Subkultur. Tourismuswerbung beutet Subkulturen aus. Diese werden in der Werbung zu Cliché-Kulturen. Cliché-Kulturen sind in Beton gegossene Kulturen, die sich nicht mehr bewegen und entwickeln können.

Wenn aber Subkulturen sich berühren oder verschmelzen, dann werden sie zu Kultur. Kultur entwickelt sich vor allem auch dann, wenn sie nicht von sich allein eingenommen ist und ein wenig Distanz zu sich selber gewinnt. (Das gelingt in Beton gegossenen Subkulturen nicht.) Das nebenstehende Plakat deutet an, was ich meine. Die Architektur des Vorarlberg Museums, wo ich das Plakat fotografiert habe, ist geradezu ein Exempel für diese Distanzierung. Die Distanz zur alten Bausubstanz kommt dadurch zustande, dass der moderne Bauteil direkt auf den alten gesetzt ist. Beide Körper berühren und durchdringen sich. Daraus wird neue Baukultur. Distanzlose Baudenkmal-Konservierer würden dies nie erlauben.  

Ein Text auf der Website des Vorarlbergmuseums lautet: "Was verbindet Lustenau mit Lagos und Vorarlberger Handwerkskunst mit afrikanischer Lebenslust. African Lace!"

 

 K Vorarlbergmuseum

 Website Vorarlbergmuseum

 

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Die letzte Reise fand vom 4. - 7. September (Donnerstag bis Sonntag) 2014 statt. TeilnehmerInnen waren vor allem Architekten / Bauleute. (Im Bild ein Teil der Gruppe beim Haus des Architekten Bernardo Bader)

Die Reise begann mit einer Führung im Vorarlbergmuseum, wo gerade auch eine Austellung über Franz Michael Felder stattfand.

Abends das Kamingespräch mit dem Hotelier Dietmar Nussbaumer.

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Am Freitag zuerst die Führung von Marion Maier durch Hittisau. Hittisau gehört mit dem Ritter von Bergmann-Haus und dem Gebäude mit Feuerwehr, Musik-Probelokal und Frauenmuseum zu den Pionierorten der neueren Architektur des Bregenzerwaldes.

Anschliessend Fahrt nach Andelsbuch zum Werkraum-Haus. Das Werkraum Haus ist ein ambitiöses Projekt, das die handwerkliche Tradition und die modernen Ausdrucksformen des Handwerks des Bregenzerwalds mit einer Präsentation von Produkten der Werkraum-Mitglieder darstellt. (Der Verein umfasst 80 Mitglieder. Gut 40 % der Mitgliedsbetriebe sind aus holzverarbeitende Betriebe (Tischler, Zimmerer, Küfer, Bodenleger. Knapp 60 % der Mitglieder kommen aus dem Baugewerbe und Bauhandwerk.)

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Zurück in Hittisau Besuch eines Holzbaubetriebs mit Dietmar Nussbaumer. Auf dem Rückweg "Zufalls-"Begegnung mit dem Eigentümer des früheren Gasthauses Sonne. Umtrunk in der archaischen Kegelbahn.

Kamingespräch mit Architekt / Architekturkritiker Florian Aicher: Architektur im Bregenzerwald

Die Tagestour am Samstag wird geführt von Florian Aicher. Initiative „Alte Bausubstanz" mit Beispielen,
Einführung Bürgermeister Hirschbühl: Ortsentwicklung Krumbach; Besichtigungen alter und neuer Bauten in Krumbach

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Mittagessen in der Krumbacher Stube.

Anschliessend Besuch des Hauses des Architekten Bernardo Bader und Weiterfahrt nach Langenegg.
Christian Nussbaumer, Bauverantwortlicher in Gemeindevorstand schildert die Ortsentwicklung von Langenegg mit dem Langenegger Talent.

Besuch des Käsekellers Lingenau (zur Abwechslung ein Betonbau, Achitekt: Oskar Leo Kaufmann) und zum Abschluss Besuch eines Privathauses, das in den Anfangstzeiten der neuen Architektur umgebaut worden ist.

DSC0683 Am Sonntag Fahrt nach Reuthe – Schnepfau in die Heimat von Franz Michael Felder. Wanderung von Schnepfau auf die Schnepfegg, Lesung einer Szene aus einem Roman von Felder, der an diesem Ort spielt. Weiter nach Bizau und Rückfahrt.
   
   
   

Werkraum

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Kultur entwickelt sich dort weiter, wo sie ihr Subkulturdasein überwindet, also cross-cultural wird oder verschmilzt. Zum Beispiel im Werkraum Bregenzerwald, wo elegante Beinkleider von Vernissagegängern neben behaarte Beine aus Lederhosen zu stehen kommen.

Der "Werkraum Bregenzerwald" steht in Andelsbuch, einer ländlichen Gemeinde mit nicht einmal 2500 Einwohnern. Eine langgezogene, hohe Halle mit 700 m2 Ausstellungsfläche, durchsichtig, d.h. rundherum verglast. Er wurde von Peter Zumthor geplant.

Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es im Brengenzerwald Ansätze einer Kultur gibt, die manches zusammenfügt, was andernorts in Subkulturen gespalten ist, berührungslos. Ein Bereich dieser Kultur ist eine herausragende Arhitektur, die sich seit den 90-er Jahren entwickelt hat. Sie hat sich mit Holzbautradition und Handwerk verbunden und zu einer eigentlichen Holzbaubewegung entwickelt. Während sich anderswo ein Stil-, Material- und Farbenwirrwarr ausbreitet, findet man in der ganzen Gegend kaum ein in jüngerer Zeit gebautes Haus, das man als stil- und geschmacklos bezeichnen möchte. Selten Avantgarde oder plastisch (wie etwa Caminadas Waldhaus), meist einfache Formen. Verwendung findet unbehandelte Weisstanne von einer der unzählichen Sägereien im Land. Auch Gewerbebauten, bei uns meist als Container aus Metallpanelen geformt, sind aus Holz gebaut. Eine wohltuende Folge davon: traditionelle Alt- und moderne Neubauten vertragen sich Dank der Einheitlichkeit des Materials ausgezeichnet.
„Werkraum" ist nicht nur ein Gebäude, sondern eine Art Philosophie mit einer starken sozialen Komponente und Kompetenz. Im Werkraum sind 80 Meisterbetriebe aus dem Bregenzerwald zusammengeschlossen. „Im Zentrum steht das Werk: immer ein Ganzes, Kopf und Hand, Vergangenheit und Zukunft, Herstellung und Gestaltung. So verfügt der Werkraum über gestalterische Kompetenz, Bildung und Selbstbildung. Die Begegnung mit professionellen Gestaltern – Architekten, Designern, Künstlern – geschieht auf Augenhöhe. Mit dem Wettbewerb „Handwerk+Form" wurde dafür in zwei Jahrzehnten ein einzigartiges Instrument geschaffen." (Website www.werkraum.at)   

Schon bevor das Zumthor-Gebäude im Sommer 2013 eröffnet wurde, organisierten der Verein Werkraum Wettbewerbe und Ausstellungen im Rhythmus einer Triennale. Holz dominiert. Aber man findet auch Arbeiten in Textil und Metall,

 
Warum?

Dies war die Frage, die von der Reisegruppe immer wieder gestellt worden ist - warum gibt es hier diese handwrkliche und soziale Kultur, die sich bei uns doch ebensogut hätten entwickeln können, sich aber nicht entwickelt hat?

Antwort:

"eigen+sinnig Der werkraum bregenzerwald als Modell für ein neues Handwerk" von Florian Aicher und Renate Breuss Mit Bildern von Thomas Lüttge oekom verlag 2005

 

Gleich nach der Reise in den Bregenzerwald suchte ich nach dem Buch, das im Cheminée-Raum des Hotels Krone aufgelegen hatte. Ich fand mehrere antiquarische Angebote und bestellte eines. Vielleicht war es einmal ein Rezensionsexemplar. Auf unsere Warum-Frage hätte es sich Florian Aicher leicht machen können, indem er auf dieses kleine Buch (192 Seiten) hingewiesen hätte. Es bringt eine Palette von Aussagen, die sich zu einer Antwort summieren. Das Buch (und wohl auch Florian Aicher) neigt zum Understatement. Es hat einen etwas kryptischen Titel, gewiss von den Autoren und nicht vom Marketingchef des Verlags formuliert. Es kommt bescheiden daher und hätte von Inhalt und Bildmaterial her als prächtiger Band aufgemacht werden können. Die Antworten auf das Warum wird auf verschiedenen Wegen gegeben. Sie sind nie theoretisch, sondern immer beschreibend, phänomenologisch. Sehr einfühlend und mit grossem Fachwissen werden Handwerke und Handwerker beschrieben. Das Werk ist gleichzeitig Kultur- und Sozialgeschichte. Auch hier wird in der bescheidenen Form der Schilderung grosses Wissen zusammengetragen. Das Theoretisieren kann das Autorenpaar auch vermeiden, indem es mit Exponenten von Kultur und Wissenschaft Interviews führt und wiedergibt. Hier werden einige Dinge auf den („theoretischen") Punkt gebracht. Es ist, wie der Untertitel sagt, ein Buch über den Werkraum Bregenzerwald, also eigentlich eine Monographie. Aber der Geltungsbereich der Ausführungen geht weit darüber hinaus. Gegenfrage: Warum nicht? Als Schweizer mag man gelegentlich reflektieren, warum Ähnliches nur ansatzweise und nicht als kulturelle Strömung auch bei uns Fuss fasste. In den Gesprächen wurde gelegentlich die Not genannt. Diese Aussage wird im Buch nicht so deutlich gemacht. Im Überblick wird man aber doch sagen müssen: Wohlstand (kapitalgetriebene Wirtschaft) ist trotz damit verbundenem Mäzenatentum kein Substrat, auf dem eine nachhaltige sozial und kulturell stark verwurzelte Bewegung gedeihen kann.

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d'Herbschtsunno

In diesem Abschnitt wird noch einiges auszuführen sein. Als Pausenzeichen oder Platzhalter hier als kleine Kostprobe ein Dreizeiler des Wälders Kaspar Troy, entnommen dem Bändchen "Im Wald", das erschienen ist als Band 2 der Edition Krone, herausgegeben von Helene und Dietmar Nussbaumer, Hoteliers der Krone Hittisau:


D'Herbschtsunno

D'Herbschtsunno ströflot dio vielgfarbatlo
Blätter bi eohrom schpielerischo Tanz in Tod.
Deawag söt ma ou amol gong künno.