Altersvorsorge oder Frauen ?

Zu Beginn ein paar Fakten, ein Disclaimer und eine Gegenrede

Fakten. Bei der Einführung der AHV galt für beide Geschlechter das Rentenalter 65. Erst später beschlossen die Männer (die Männer! Frauen waren noch nicht stimm- und wahlberechtigt) mit teilweise paternalistischen Begründungen (schwaches Geschlecht und so) die Absenkung des Rentenalters zuerst auf 63, dann auf 62 Jahre. Mit der 10. AHV-Revision 1995 wurde das Rentenalter einerseits flexibilisiert und andererseits dasjenige der Frau schrittweise auf 64 angehoben.

Die AHV ist so etwas wie ein gemeinsamer Vorsorgetopf aller Erwerbstätigen. Gemäss der AHV-Statistik für 2021 kamen 34 Prozent aller Beiträge von den Frauen, und 55 Prozent der Rentenleistungen gingen an Frauen. Aufgrund der unterschiedlichen Lebenserwartung (mit 65 Jahren: Männer 19.3 Jahre, Frauen 22.2 Jahre) beziehen Frauen derzeit 3.9 Jahre länger Rente als Männer; beim Pensionierungsalter von 65 wären es immer noch 2.9 Jahre. Per saldo werden Frauen auch in Zukunft mehr Geld aus dem AHV-Topf beziehen, als Männer.

In der betrieblichen Vorsorge (2. Säule, BVG), die nicht Gegenstand der bevorstehenden Abstimmung ist, liegen die Frauen-Renten etwa 1/3 tiefer als Männerrenten. Die Gründe sind bekannt (u.a. reduzierte Arbeitspensen und damit Löhne).

Disclaimer. Einerseits: Unter einigen Gesichtspunkten stelle ich fest, dass wir Männer uns in der Schuld der Frauen befinden. (Unter anderen Gesichtspunkten gilt das Umgekehrte.) Andererseits: Zweifellos sehe ich, dass es für die Betroffenen zu schmerzhaften Verlusterfahrungen führt, wenn ihre Einkommensperspektiven im Alter von 64 Jahren zu ihrem Nachteil verändert werden. (Solche Erfahrung trifft alle bei der Absenkung des Umwandlungssatzes in der 2. Säule.)

Gegenrede. Die angesprochenen Fakten, insbesondere die finanzielle Bevorteilung der Frauen in der Vergangenheit und etwas weniger in der Zukunft (in der AHV) einerseits und die tieferen Frauen-Renten in der 2. Säule andererseits sind keine Grundlage dafür pauschal zu behaupten, die geplante Reform würde «auf dem Buckel der Frauen» durchgeführt.

Meine Gegenposition

In Bezug auf die AHV sprechen die Fakten bereits eine deutliche Sprache. Das Argument mit dem «Buckel» ist schwach bis falsch. Wohl deshalb wird die 2. Säule immer wieder in die derzeitige AHV-Diskussion einbezogen. Nur so lässt sich das Argument der tieferen Frauenrenten aufrechterhalten. Auch aus meiner Sicht muss die 2. Säule in die Diskussion einbezogen werden, aber nicht opportunistisch-verdeckt, um die gängige Ungleichberechtigungsthese zu stützen, sondern grundsätzlich und transparent, um das Konzept der Altersvorsorge in Frage zu stellen. Damit meine ich erstens: Die 2. Säule ist skandalös ineffizient. Ein Rentenfranken der 2. Säule kostet 30 Mal mehr als ein Rentenfranken der AHV (weil die AHV fast keine «Geldaufbewahrungskosten» hat). Dreissig Mal! Um es zu verdeutlichen: Das ist, wie wenn das eine Paar Schuhe im Schuhgeschäft mit 200 Franken angeschrieben wäre, ein gleiches daneben mit 6000 Franken. Zweitens: Die 2. Säule ist nicht nur ineffizient, sondern auch schädlich, weil die gigantische Kapitalmenge, die durch die 2. Säule eingesammelt wird u.a. Immobilienpreise in die Höhe jagt und die Börsen anheizt – beides mit dem Risiko des Platzens von Blasen. Es nützt zum Beispiel überhaupt nichts, wenn Rentner von Immobiliengewinnen leben dürfen, dafür aber mit kaum mehr bezahlbaren Mietpreisen konfrontiert sind. Angesichts dieser Situation kann es nur eine Entwicklungsrichtung geben: Die AHV, das Umlageverfahren, muss weiterentwickelt, die 2. Säule muss gebremst werden. Dieses Ziel ist von unvergleichbar grösserer Bedeutung als die ziemlich hinkende These der Ungleichberechtigung (siehe oben Fakten). Es ist eine fahrlässig verpasste Chance, wenn eine Altersvorsorge-Debatte geführt wird, ohne dass nachdrücklich auf diese Systemmängel hingewiesen wird.

Schräge Debatte

So weit einige inhaltliche Gesichtspunkte. Was mich allerdings ebenso stört, ist die Art und Weise, wie die Argumentation in dieser Debatte geführt wird. Dass Abstimmungskämpfe offenbar nur mit Emotionalisierung zu gewinnen sind, muss man wohl hinnehmen. Wo sind die Grenzen? Die Linke scheut sich nicht, bürgerliche Kampagnen mit völlig unzulänglichen Informationen und Angstmacherei nachzuahmen – mit den folgenden Strategien:

Emotionalisierung / Frauenthema: Rein rechnerisch / finanziell ist die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern (bezahlt von den Männern) derart deutlich, dass das Stichwort der «Reform auf dem Buckel der Frauen» ohne wenigsten einen summarischen Hinweis auf die Fakten äusserst fragwürdig ist. Wenn es um die Altersvorsorge geht, dann verteidigt die Linke die Privilegien der Frauen in der AHV, statt die Situation für alle zu verbessern. Kann man eine solche Position als sozial-demokratisch bezeichnen? Mit gutem Grund sehen sich Männer in einiger Beziehung in der Schuld der Frauen. Daraus resultiert ein oft nicht einmal bewusstes, latent schlechtes Gewissen – mindestens bei denen, die sich mindestens ein wenig als «woke» sehen. Das schlechte Gewissen lässt sich mit dem Argument der Ungleichbehandlung bestens ansprechen. Gerade deshalb wäre an dieser Stelle eine transparente und vollständige Argumentation umso mehr am Platz. Schlechtes Gewissen sollte nie ausgebeutet werden, auch im Interesse «höherer Ziele» nicht.

Emotionalisierung / Angstmacherei ist ein besonders häufig anzutreffendes Muster bürgerlicher Kampagnen. (Besonders häufig wird mit der Abwanderung von Steuerzahlern oder Unternehmen Angst verbreitet.) Wenn derzeit mit dem kommenden Pensionsalter 67 gedroht wird, falls dem Frauenrentenalter 65 zugestimmt wird, dann ist das noch eher an den Haaren herbeigezogen, als die Drohung damals der Abwanderung von Konzernen bei Annahme der Konzernverantwortungsinitiative. Denn ein sachlicher, kausaler Zusammenhang besteht hier nicht – ausser man huldige der reaktionären Devise zu Zeiten der Jugendunruhen: «Wehret den Anfängen!».

Scheinbarer Deal: Immer wieder ist (von Frauen) zu hören: Ich bin erst für gleiche Renten, wenn die Gleichstellung von Mann und Frau erreicht ist. Das klingt nach Deal und wirkt durchaus fair. Diese Vorgehensweise ist in der Politik nicht unüblich. Zu fragen ist jedoch: Ist es legitim, dass eine Forderung erhoben wird, die von keiner gesellschaftlichen Gruppe allein oder zusammen mit einzelnen anderen Gruppen eingelöst werden kann? Gesellschaftliche «Deals» bestehen darin, dass man etwas gibt, um etwas anderes zu erhalten. Niemand kann allerdings in einem politischen Deal Gleichstellung versprechen. Gleichstellung ist das Resultat eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, für den man sich einsetzen, dessen Zielerreichung aber von niemandem versprochen werden kann. Deshalb eignet es sich auch denkbar schlecht als Faustpfand.

Lockerer Umgang mit Fakten: Immer wieder wird die Notwendigkeit von zusätzlicher Finanzierung in Frage gestellt und den Bürgerlichen Angstmacherei vorgeworfen. Immer wieder hätten die Prognosen schlechter ausgesehen als schliesslich das Ergebnis – ähnlich etwa Jacqueline Badran in einem WOZ-Interview. Ebenfalls in der WOZ hingegen Redaktor Yves Wegelin: «Dass die AHV zusätzliche Mittel braucht, ist unbestritten.» Sicher gibt es unterschiedliche Budgetierungsstile. Ich selber tendierte immer zu vorsichtiger Budgetierung und liess mich gerne durch ein besseres Ergebnis überraschen. Ich würde diesen Stil jedem raten, der Verantwortung trägt. Doch wer es sportlich mag, Autofahrer oder Finanzverantwortlicher, fährt lieber an der Grenze des Riskierbaren und nimmt in Kauf, dass er über die Kurve hinausgerät und einen Crash verursacht. Während beim Autofahrer die Schuldfrage schnell beantwortet ist, nehmen die Befürworter ambitiöser Budgetierungspraktiken in der öffentlichen Debatte kein Risiko auf sich. Tatsache ist jedenfalls, dass der AHV-Fonds derzeit nach einem Rekord-Börsenjahr nur deshalb mit einem im Vergleich zu den ausbezahlten Renten relativ kleinen Überschuss dasteht, weil mehrfach Zusatzfinanzierungen (zu den Arbeitnehmer-/Arbeitgeber-Beiträgen) beschlossen worden sind. (Umlageüberschuss 2021 ca. 0.5%, Betriebsergebnis v.a. aufgrund Börsengewinnen ca. 2.5% – solche Gewinnlein können schnell verschwinden.))

Mehrwertsteuer als Finanzierungsquelle

Dass die Mehrwertsteuer die unsozialste Variante für eine AHV-Finanzierung ist, gilt als ausgemachte Sache – unsozial, weil Reich und Arm gleich viel bezahlt, keine Progression. Gleich viel? Prozentual ja, nominal nur wenn sie gleich viel konsumieren würden. Doch diese Debatte müsste in anderem Zusammenhang geführt werden. Zu fragen wäre vor allem: Gäbe es nicht innerhalb der Mehrwertsteuer auch Differenzierungsmöglichkeiten? Zum Beispiel: Abhängig von der Steuererklärung / -einschätzung werden Steuerzahlende mit Einkommen unter einer bestimmten Grenze mit einer «Mehrwertsteuer-Karte» ausgestattet. So wie die Kunden von Coop und Migros an der Kasse ihre Rabattkarten zücken, könnten die Inhaber der Mehrwertsteuer-Karte ihre Karte einlesen lassen, worauf die Mehrwertsteuer von der Software der Ladenkasse reduziert oder ganz weggerechnet wird. Weitere Ideen zur Kompensation der Mehrwertsteuer bei tiefen Einkommen verkneife ich mir hier.

Abschied von der Schlagwortpolitik

Die Idee mit der Mehrwertsteuer-Karte habe ich hier nur skizziert um anzudeuten, dass das defensive Schlagwort der unsozialen Mehrwertsteuer durch etwas Phantasie und alternative Lösungsvorschläge ersetzt werden könnte. Das würde aber einen Abschied von der immer gleichen Schlagwortpolitik bedeuten. Ob man auf solches hoffen kann? Derzeit scheint mir eher, dass die Linke mit einem Mangel an Phantasie und proaktiver Argumentation diejenigen Ziele aus den Augen verliert, die eigentlich zu verfolgen wären – im Fall unseres Themas hier: das Ziel einer effizienten und möglichst unschädlichen Altersvorsorge. (Vielleicht macht sie das zur Verliererpartei.) Das Thema der Gleichberechtigung der Frauen müsste deswegen nicht vernachlässigt werden.