Verschwörungstheorien
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- Erstellt: Freitag, 22. Mai 2020 14:51
Zur Stigmatisierung
Während derzeit viel über Verschwörungstheorien und Verschwörungtheoretiker geschrieben wird, bleiben Begriff und Funktion von «Verschwörungstheorie» selber unreflektiert. Eine Reflexion ist unbedingt nötig, denn das Reden über Verschwörungstheoretiker ist ja bereits ein für Betroffene einschneidender sozialer Vorgang.
«Verschwörungstheorien» gibt es nicht nur zu aktuellen Ereignissen, sondern auch zu historischen. Zwei Beispiele:
Daniele Ganser beschäftigt sich mit 9/11, mit dem Einsturz mehrerer Gebäude des World Trade Center in Manhattan, insbesondere mit den Einsturzursachen bei einem Gebäude (WTC 7), das nicht von Flugzeugen getroffen worden ist. Mit vielen Bau- und Sprengexperten weist er darauf hin, dass der Einsturz dieses Gebäudes alle Merkmale einer Sprengung aufweise. Zwar nannte er meines Wissens nie eine von ihm vermutete Täterschaft. In der Presse «einigte» man sich aber darauf, er «insinuiere» – deshalb ist er, der bis dahin «Historiker» oder «Friedensforscher» genannt worden ist, inzwischen zum «Verschwörungstheoretiker» geworden.
Christoph Blocher beschäftigt sich gerne mit nationalen historischen Vorgängen. Zum 100. Jahrestag des Landesstreiks 1918 hielt er eine Rede, in der er Behörden und Soldaten dankte. Er sieht im Landesstreik primär einen «unschweizerisch-sowjetischen Umsturzversuch». («Schweizerisch» waren hingegen wohl der für den militärischen Einsatz gegen Streikende in Zürich Verantwortliche, Oberstdivisionär Emil Sonderegger, der sich später der faschistischen Organistion der Frontisten anschloss und General Ulrich Wille, der offen mit dem Kaiserreich sympathisierte). Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Corona-Situation von Millionen von Menschen, die durch behördliche Massnahmen von jeder Verdienstquelle ausgeschlossen und ins Elend getrieben worden sind, braucht es wenig Phantasie, sich das Massenelend nach dem 1. Weltkrieg fast ohne soziale Sicherheitssysteme als Ursache für die landesweiten Demonstrationen vorzustellen. Wo das eigene Vorstellungsvermögen nicht hinreicht, hilft die historische Forschung, die Blochers Theorie widerspricht.
Damit sind zwei «Verschwörungstheoretiker» erwähnt, von denen der eine mit einem sehr wirkungsvollen Stigma belegt worden ist. Er wird nie mehr zu einer öffentlichen Debatte (TV, Radio, Presse), die ernstgenommen werden will, eingeladen werden. Dem anderen schadet die Absurdität seiner Thesen in keiner Weise. Er bleibt im öffentlichen Diskurs.
Das Muster der Verschwörungstheorie ist keineswegs neu. Gerade die Art, wie Christoph Blocher argumentiert, war in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg sehr verbreitet. Man nannte diese Phase «Kalter Krieg». Es gab weit herum angesehene Persönlichkeiten und Organisationen, die Verschwörungen nachspürten. Zu nennen ist da zum Beispiel der SAD (Schweizerischer Aufklärungsdienst), der in seinen regelmässigen Bulletins zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft zu Verschwörern umdeutete. Einer der verwendeten Begriffe war «Frontorganisation». So wurden beispielsweise die damaligen Ostermärsche gegen Atomwaffen in SAD-Augen zu sowjetischer Wühlarbeit. Auf gleichen Pfaden wandelte Ernst Cincera, der eine Art privaten Geheimdiensts aufbaute und unzählige Organisationen und Menschen denunzierte.
Derartige Denunziationen wirken mit zuspitzender Polarisierung, die keine Grautöne zulässt. Ähnlich wie im Umgang mit Israel: Weil mittlerweile Kritik an der Politik der israelischen Regierung fast grundsätzlich schon Antisemitismus-verdächtig ist, halten sich viele Kommentatoren vorsichtshalber mit Äusserungen zum Thema zurück. Damit ist das Ziel der Polarisierung erreicht. Ähnlicher Polarisierung dürfte auch Kritik an Covid-19-Massnahmen unterliegen. Das deutet auch der unten zitierte Peter Selg an: Lieber Rückzug ins Private, als zu einer «falschen» Partei geschlagen zu werden.
Zum Links-Rechts-Schema
Die generelle Unsicherheit in Bezug auf das gesamte Covid-19-Geschehen ruft ganz besonders nach Referenzen, die man in der Vergangenheit als vertrauensbildend erlebt hat. Ein mögliches Referenzsystem ist das Links-Rechts-Schema. Nun ist es zwar so, dass sich die tendenziell oppositionelle, kritische Linke im Rahmen der Covid-19-Krise und den verordneten Massnahmen äusserst gouvernemental verhält. Forderungen nach Lockerung von Massnahmen werden Gewerbevertretern und der SVP überlassen. Voten in Richtung Beibehaltung von restriktiven Massnahmen kommen gar von den Gewerkschaften. Hinzu kommt, dass «rechte» Webseiten oft ein Sammelsurium von Positionen präsentieren, die mindestens aus Mainstream-Sicht, als absurd und wissenschaftlich unhaltbar angesehen werden müssen.
So erstaunt es nicht, wenn ein Freund, den ich zur überzeugten Linken zähle, auf einer Liste verschiedener wichtiger Beiträge zur Covid-19-Thematik u.a. auf Sucharit Bhakdi hinweist und bei diesem Autor einschränkend anmerkt: «Bhakdi ist zwar ein anerkannter Wissenschafter, der servus-tv aber ein sehr rechtslastiger Sender».
Ich denke, dass kritische Menschen, denen das Links-Rechts-Refernzsystem wichtig ist, sich je länger desto mehr daran gewöhnen müssen, dass sich «Wahrheit» nicht an dieser Art von Koordinaten orientiert.
Das Bedürfnis erklären zu können
Verschwörungstheorien sind zunächst Versuche, Sachverhalte oder Ereignisse zu erklären. Das Bedürfnis zu erklären, steckt in jedem Menschen. Wenn infolge eines Erdbebens ein Bild von der Wand fällt, ist die Erklärung naheliegend. Wenn es eines Abends ohne spürbare äussere Wirkung plötzlich herunterfällt oder sich bewegt, wie im bei Parapsychologen bekannten Beispiel der Anwaltskanzlei in Rosenheim, dann ist die Vermutung naheliegend, dass da «etwas dahintersteckt». Wie auch bei einem Vorgang, den ich erlebt habe: Während des Mittagessens im Rahmen eines Kurses hielt ich eine Glasschüssel mit einer mässig warmen Speise in der Hand. Plötzlich «explodierte» die Schüssel. Die Scherben «spritzten» in alle Richtungen. Niemand wurde verletzt. Was an Speisen auf dem Tisch war, musste vorsichtshalber entsorgt werden. Weil in der Gruppe an diesem Tisch sowieso gerade Spannung herrschte, wurde ein Zusammenhang Spannung-Explosion intensiv erörtert.
Erklärungsbedarf besteht vor allem da, wo die Erklärung nicht auf der Hand liegt oder Menschen den kursierenden Erklärungsangeboten misstrauen. Man fragt nicht überall nach Erklärung, wo man etwas nicht selber versteht. Meist ist man zufrieden, wenn man annehmen kann, kundige Menschen hätten eine Erklärung bereit, dann zum Beispiel, wenn man danach fragen würde, weshalb ein Ei hart wird, wenn man es kocht oder weshalb sich eine Auto bewegt, auch wenn niemand schiebt oder zieht.
Verschwörungstheorien sind gewissermassen «Infektionen des Kausaldenkens». Die Naturwissenschaften der letzten 200 Jahre haben uns gelehrt, dass jede Erscheinung durch eine Ursache bewirkt ist. Mit dem Darwinismus und dem Prinzip des «survivals oft he fittest» wurde das Kausalprinzip auf lebende Organismen übertragen. Die differenzierte Beschreibung von Farben und Formen wurde den Dichtern überlassen, die Wissenschaft beschränkte sich fürderhin auf kausale bzw. funktionale Beziehungen. Während Wissenschaft in der Regel differenziert ist und sich nicht auf Monokausalitäten beschränkt, sind populärwissenschaftliche Darstellungen mit oft deutlich monokausaler Tendenz sehr viel einfacher gestrickt. Kein Wunder, dass selbst komplexe soziale Sachverhalte monokausal erklärt werden. In Verschwörungstheorien treten Monokausalitäten wie Karikaturen der praktizierten Wissenschaften in Erscheinung. Hinzu kommt ein Bedürfnis nach Benennung oder gar Personifizierung. Erst mit einer Personifizierung kommt das «befriedigende» Setting einer Freund-Feind-Konstellation zu Geltung. «Das Kapital» wird in der Illustration zum Zylinder tragenden Dickbauch mit Zigarre in der Fratze. Da wirkt es doch schon fast seriös, wenn man statt «Kapital» schreiben kann «Blackrock». Blackrock kam im Fall der Corona-Krise allerdings nicht in Frage, wurden deren Interessen ja auch massiv geschädigt. Die Funktion des Drahtziehers fällt in diesem Fall Bill Gates zu.
Auffallend im Rahmen der Covid-19-Krise ist, dass Erklärungen aufgetischt werden noch längst bevor überhaupt ein einigermassen vollständiges Bild des Sachverhalts entstanden sein kann. So wurde die Krankheit umgehend zur normalen Grippe erklärt, was jede restriktive Intervention des Staates überflüssig oder gar verdächtig erscheinen liess. – Die Eile, mit welcher mit Erklärungen aufgewartet wird, ist ein Aspekt, der skeptisch stimmen muss.
Verschwörungstheorien sind deshalb oft bestechend, weil sie meist einen wahren Kern enthalten. Allerdings muss gerade die Einfachheit der Erklärungsmuster eine Warnung sein.
Ein Beitrag jenseits von Referenzsystemen und Verschwörungstheorien
An dieser Stelle möchte ich einen Beitrag wärmstens empfehlen, der das aktuelle Geschehen sehr «rücksichtslos» in Bezug auf gewohnte Referenzsysteme in eine Entwicklung stellt, die im Nationalsozialismus eine Art Höhepunkt (bzw. Tiefpunkt) erfahren hat, aber sehr viel weiter zurückreicht. Der Beitrag knüpft an das Interview von Ken Jebsen mit Sucharit Bhakdi an, was für viele bereits ein No-go darstellen mag.
Peter Selg, der Autor des Beitrags, der derzeit wohl produktivste anthroposophische Autor, ist selber Arzt, lehrt an zwei Hochschulen und schränkt ein: «Ein Urteil über Bhakdis Aussagen zur aktuellen virologischen, epidemiologischen und klinischen Situation der Pandemie in Deutschland steht mir nicht zu, obwohl mir vieles von dem, was er ausführte, einleuchtend und plausibel erscheint; zur wirklichen Beurteilung aber fehlen mir das Fachwissen und der Überblick, zumal die diesbezüglichen Einschätzungen weit auseinander gehen. Die eindrucksvoll vorgebrachten Sorgen und Befürchtungen Sucharit Bhakdis zur politisch-gesellschaftlichen und ökonomischen Lage, zur Frage der Demokratie, der Freiheit und des sozialen Umgangs sowie seine Betroffenheit darüber teile ich jedoch in vollem Umfang.»
Für Selg sind die aktuellen Entwicklungen alarmierender als für manche Kollegen, wie er einräumt. «Wenn man sich mit der NS-Zeit und der Rolle der Medizin intensiv auseinandersetzt, sieht man anders auf manche Vorgänge der Gegenwart, in besonderer Weise alarmiert und empfindlich, das möchte ich in Rechnung stellen.»
Zum Dilemma öffentlicher Manifestation schreibt ein Kommentator (Christoph Hueck) zum Selg-Artikel : «Allerdings zeigt die Akanthos Akademie, dass man sich auch anders als Peter Selg beschreibt [Rückzug ins Private] zur Corona Hysterie verhalten kann.»
Für Selgs Ausführungen steht keine Partei, kein Leibblatt, keine Kirche oder andere Bezugsgruppe Modell. So wie für das eigene Urteil ohnehin niemand massgebend und verantwortlich sein kann, als nur ich selber.
Zu Peter Selg Beitrag «Eine medikalisierte Gesellschaft? Zum geistigen Klima der Corona-Krise»