Ernannte und Selbsternannte
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- Erstellt: Montag, 24. Januar 2022 15:23
Bangen um die Deutungshoheit?
Diese Ausführungen sind von einer Replik gefolgt.
Wer ernannt wird, ist zuständig, wird als kompetent angesehen – oder ist zumindest legitimiert. Etliche Funktionen lassen sich gar nur aufgrund von Ernennung ausüben. Selbsternannte Polizisten kann es nicht geben, oder selbsternannte Richter. Ernennung setzt ein System voraus, das Legitimation verleihen kann und somit ernennen darf. Wie es um die Legitimität des Systems steht, ist eine andere Frage. Auch «Selbsternannter Professor» klingt seltsam. Professor setzt z.B. Universität und ein entsprechendes Berufungsverfahren voraus. Gerne nehmen wir an, dass dieses über alle Zweifel erhaben ist. Selbsternannter Wissenschafter geht schon eher, erst recht selbsternannter Berater, Unternehmer oder (Kunst-) Maler. Auch wenn sich jemand jederzeit als Berater betätigen kann und allein von der Anerkennung seiner Klienten und nicht etwa von derjenigen einer Behörde abhängig ist (im Unterschied zu Staatsschullehrern oder Professoren), lieben es Journalisten, das Attribut «selbsternannt» einzusetzen, wenn sie einen Schein von Fragwürdigkeit auf diese Beratungsperson werfen wollen. «Selbsternannt» dient in diesem Moment der Stimmungsmache. Erhellende, informative Funktion kommt dem Attribut nicht zu. Nie.
Ein anderer Begriff: Querdenken oder Querdenker. Plötzlich war er da. Oft tauchte er gemeinsam mit anderen Begriffen auf. Eine WOZ-Journalistin, die von der Konstanzer Corona-Demo berichtete, schrieb von «rechtsesoterischen Referenzen». Von Alu-Hüten war die Rede. Es kam kaum je vor, dass die Bedeutung dieser «jungen» Begriffe genauer umschrieben wurde. Anfangs war das Bedürfnis nicht zu übersehen, die beobachteten Phänomene auf der Links-rechts-Skala einzutragen. Doch zu vieles stand quer zu dieser eindimensionalen Klassifizierung. So blieb Querdenken übrig. Doch vergeblich suchte und sucht man nach einer Erhellung dieser Begrifflichkeit. Sie blieb pauschal, unbestimmt und damit im Grund genommen untauglich für die Beschreibung sozialer Phänomene oder von Denkrichtungen. Gegen diese Unbestimmtheit unternimmt auch Jeannie Moser nichts.
Nochmal ein Sprung: «Geschichte der Gegenwart». Dies ist eine Website, die (so meine Empfindung) von hoher Warte aus wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen beobachtet und kluge Aufsätze dazu publiziert, deren Lektüre ich gerne empfehle (https://geschichtedergegenwart.ch/). Da liest man beispielsweise über «Machtverhältnisse statt Mythen. Für ein emanzipatorisches Verständnis von Wissenschaftsfreiheit» oder «Wie anthroposophisch waren die Grünen?». Der jüngste Beitrag – und Anlass für diese Zeilen – lautet: «Das gekaperte Misstrauen. Zu Trumpismus und ‚QUERDENKEN‘».
In Sachen Gelehrsamkeit ist auch diesem Aufsatz kaum etwas vorzuwerfen. Trotzdem ist er irgendwie seltsam. Das beginnt mit der Themenformulierung beziehungsweise der Überschrift: Da werden zwei ins selbe Bett gelegt: Trumpismus und Querdenken. Ist dies einfach a priori schon klar? Weder Trumpismus noch Querdenken werden näher umschrieben. Hingegen werden gleich eingangs zwei Gemeinsamkeiten festgemacht: «Selbsternannte ‚Querdenker*innen‘ bringen sich im pandemischen Ausnahmezustand in Stellung und stoßen in Berlin protestierend bis auf die Stufen des Reichstags vor; eine Trump-Anhängerschaft wiederum stürmt, nachdem der abgewählte Präsident ostentativ von gestohlener Wahl gesprochen hat, das Kapitol in Washington.» Es zeugt von «Grosszügigkeit», besser gesagt Oberflächlichkeit, diese beiden Aktionen auf dieselbe Stufe zu stellen – nur weil in beiden Fällen Stufen erstiegen worden sind. Dass diese Quertypen auf den Reichstagsstufen für die damalige Grossdemo sicher nicht repräsentativ waren, spielt keine Rolle. Die hübsche Parallele soll nicht gestört werden. – Und dann eben: Durch den ganzen Aufsatz hindurch werden Querdenker (ich schenke mir das obligate *innen) als «selbsternannt» bezeichnet. Ja, von wem könnten Querdenker denn ernannt werden? Vom Verfassungsschutz oder vom Bundespräsidenten? Meine notorische Skepsis gegenüber AutorInnen, die dieses Attribut völlig unmotiviert – wie mir scheint – einsetzen, schlägt wieder einmal zu. Oder eben das Misstrauen, um das es in diesem Aufsatz vor allem geht. Der Vollständige Titel lautet nämlich: «Das gekaperte Misstrauen. Zu Trumpismus und ‹QUERDENKEN›» Unter welcher Flagge ist denn Misstrauen bisher gesegelt, wer war nicht wachsam genug, sodass das Misstrauen nun gekapert werden konnte?
Neu ist die Haltung des (professionellen) Misstrauens ja nicht. Einst hiess es Zweifel oder Skepsis und ist geläufig als lateinisches Descartes-Zitat: Cogito ergo sum, was in der vollständigen Version lautete: «Dubito ergo cogito ergo sum» (Ich zweifle, also denke ich, also bin ich.) Das ist die Haltung, die sich die Wissenschaft auferlegt und oft auch erfolgreich praktiziert. «Die organisierte Skepsis ist der Kern des wissenschaftlichen Prozesses» schreibt Eveline Geiser in der NZZ vom 24.1.22 – Und nun soll diese Skepsis, dieses Misstrauen also gekapert worden sein durch Menschen die sich selbst ernannt haben, also eigentlich nicht legitimiert sind, skeptisch oder misstrauisch zu sein?
Der Aufsatz ist reich an Bezügen und an Aussagen, die durchaus lohnen würden, darauf einzugehen. Das ist aber nicht das Ziel dieser Zeilen. Vielmehr möchte ich meinerseits eine These wagen.
Die Querdenker stellen die alleinige Legitimation zur Wissensproduktion des Wissenschaftssystems in Frage. Das kann die Vertreterin des Wissenschaftssystems nicht auf dieser sitzen lassen.
Doch wer sind die Querdenker überhaupt? Einmal mehr im Verlauf der Debatten des letzten Jahres wundere ich mich, wie oft und ausführlich über «Querdenken» geschrieben wird, ohne dass das Phänomen selber einigermassen fundiert dargestellt wird. Soweit ich sehe (meine Sicht ist durchaus beschränkt), ist die Basler explorativ-soziologische Studie nach wie vor der einzige Versuch, Motive zu ergründen und sozioökonomische und kulturelle Bezüge sichtbar zu machen. (Irrtümlicherweise wurde sie immer wieder so zitiert, wie wenn es sich um eine grosse repräsentative Studie handeln würde.) Wie kann man sich ernsthaft wissenschaftlich über einen Gegenstand unterhalten, den man nur sehr vage ins Auge fasst?
Vor bald vierzig Jahren wurde ich – nach Jahren an der Hochschule – Unternehmer (selbsternannt!). Mich trieb Misstrauen an, Misstrauen gegenüber der bei uns praktizierten umweltzerstörerischen Landwirtschaft. Ich wollte mit meinen Partnern Bioprodukte besser zugänglich machen. Es war die Zeit, als der Chef des Kantonslabors und spätere Professor am chemischen Institut den Bauern riet: schreibt alles mit «bio» an, es ist ja alles gewachsen, also biologisch. Es war die Zeit, als wir sanktioniert wurden, weil wir Kartoffeln und Milch über den staatlich festgelegten Preisen verkauften. Die Landwirtschaft und die Preise waren gleichgeschaltet. Es war zweifellos auch die Zeit, als sich die Dezimierung der Insekten- und Vogelwelt und die Vergiftung des Trinkwassers anbahnte – aber das Misstrauen gegenüber umweltzerstörerischen Praktiken schien sich auf diejenigen zu beschränken, die man rückblickend zur Zivilgesellschaft zählt. Wie wäre es denn, wenn ein Aufsatz, das professionelles und selbst ernanntes Misstrauen ins Zentrum stellt, statt der Schnittmenge Trump / Querdenken diejenige von Zivilgesellschaft und Querdenken betrachten würde?
Denn es ist ja erstaunlich, dass ein Misstrauen den staatlich legitimierten Wissensproduzenten gegenüber erst jetzt diagnostiziert wird. Die staatlich legitimierten Wissenproduzenten haben verschiedenste Technologien entwickelt, denen grosses Misstrauen entgegengebracht wurde – zum Beispiel: Industrielle Landwirtschaft mit Massentierhaltung, massivem Antibiotika-, Fugizid-, Insektizid- und Herbizid-Einsatz; AKW; Gentechnologie; 5G-Technologie. Keinem dieser wissenschaftlich fundierten Techniken erwuchs Widerstand aus den etablierten und «legitimierten» Wissenschaftsinstitutionen, auch nicht seitens der etablierten Parteien (diese sprangen jeweils später auf die fahrenden Züge auf und verhalfen den Graswurzel-Initiativen zum Erfolg). – Weshalb wird «Kaperung des Misstrauens» erst jetzt zum Thema?
Wer sich im Rahmen seiner wissenschaftlichen Laufbahn nicht nur in Hörsälen und Institutsräumen aufgehalten hat, sondern sich gelegentlich auch an einen Stammtisch setzte, weiss, dass Misstrauen eine verbreitete Grundstimmung ist. Sie lässt sich mit den drei Wörtern wiedergeben: «Si händ wider … » Sie haben die Strasse nun schon zum dritten Mal aufgerissen und wieder zugeschüttet. Immer schwingt hier nicht nur das Unverständnis mit, sondern der Befund: so etwas kann keiner verstehen. In diesem «Sie haben wieder … » ist nicht nur notorisches (und resignatives) Misstrauen enthalten. («Sie machen doch, was sie wollen.») Das «Sie» weist auch Ansätze zu Verschwörungstheorien auf. Wenn dann «die da oben» zu Beginn der Pandemie verlauten lassen: Masken nützen nichts, etwas später aber Masken vorgeschrieben werden, dann ist bestätigt: so etwas kann keiner verstehen.
Aber ich kann verstehen: Wenn mit den Querdenkern (was immer man darunter verstehen mag) eine ziemlich mächtige Bewegung entsteht, die anderes, «unwissenschaftliches» und vor allem «nicht-legitimiertes» Wissen produziert und gegenüber «Fakten» immun zu sein scheint, ist dies mindestens partiell eine Infragestellung der Deutungshoheit der staatlich legitimierten Wissenschaft. Das kann diese nicht dulden. Die Querdenker sind zu erledigen, einerseits dadurch, dass die Autorin sie mit Trumpismus gleichsetzt, andererseits dadurch, dass sie deren Illegitimität durch penetrantes Wiederholen des Attributs «selbsternannt» jedem Leser, jeder Leserin einhämmert.
Es gäbe Alternativen. Die Kritik an den oben erwähnten Mensch- und umweltschädlichen Technologien wurde teilweise auf der Grundlage von (heterodoxen) Erkenntnisansätzen vorgebracht, die wissenschaftlich in der Regel in Frage gestellt werden. Ein Beispiel für solche Infragestellungen ist die Wirksamkeit von extrem verdünnten Substanzen (Homöopathie). Übereinstimmend schliessen Naturwissenschafter die Möglichkeit von Wirksamkeiten a priori aus, denn, so die Begründung, in den extremen Verdünnungen würde sich die ursprüngliche Substanz gar nicht mehr nachweisen lassen, also könne die Verdünnung auch nicht wirksam sein. Weil «man» dies weiss, muss man auch nicht überprüfen, was tatsächlich schon vor Jahrzehnten in Laborversuchen nachgewiesen wurde – «weil nicht sein kann, was nicht sein darf». (Ich unterstreiche: ich schreibe hier nicht von Medizin und Heilwirkung, sondern nur von Wirksamkeit, nachgewiesen etwa in Wachstumsversuchen oder in Kristallisierungsprozessen. Mehr dazu auf dieser Website) Hier darf man vielleicht mit Recht sagen: das Misstrauen ist gekapert worden, es ist (bei den Wissenschaftern) nicht mehr da. Der Glaube an materielle Kausalitäten verstellt den Blick.
«Ernannte» Wissenschafter, die sich als allein legitimiert ansehen, sollten etwas mehr Bescheidenheit an den Tag legen. Sie könnten sich gelegentlich die Haltung von Ethnologen (wie weiland z.B. Wolf-Dieter Storl) zulegen, die nicht a priori über Selbsternennung urteilen, sondern auch auf den ersten Blick absurde Praktiken getreulich erforschen. (Storl arbeitete und beobachtete auf Demeter-Höfen.) An und für sich ist es ja erfreulich, dass die Eindimensionalität politischer Einordnung mit «links» und »rechts» etwas aufgelöst wird, auch wenn dies vorübergehend für Verwirrung sorgen mag und die etablierten Politik- und Wissenschaftsdeuter provoziert. Ebenso erfreulich ist der Vorgang der «Kaperung des Misstrauens». Wenn auf dieses eingegangen und es nicht nur mit Frontalkritik eingedeckt wird, könnte sich allenfalls eine «reflektierte Misstrauenskultur» entwickeln. Misstrauen kann auf keinen Fall die ausschliessliche Domäne des Bereichs sein, der sich als «organisierte Skepsis» beziehungsweise als «legitime Wissenschaft» versteht.
Schlussbemerkung: Es ist hoffentlich überflüssig zu betonen, dass es mir mit diesen Zeilen nicht um eine Ehrenrettung von «Querdenken» geht. Sie sind allein eine Reaktion auf die mehr oder weniger subtile Überheblichkeit der Autorin, die sie mit vielen teilt, die über heterodoxe Auffassungen und Strömungen schreiben.
Replik
Widerspruch ist mir immer sehr willkommen, auch wenn ich die geäusserte Meinung nicht teile. Jeder Widerspruch hilft, eine Sache unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die Lust, eine Duplik anschliessen zu lassen, ist selbstverständlich gross. Ich verzichte darauf, weil die Leserin / der Leser selber zu einem Urteil kommen wird. M.W.
Lieber Matthias
Zuerst vielen Dank für Deine Meinungsäusserungen auf Deiner Website. Ich bin oft anderer Ansicht, in gewissen Fragen (z.B. Sinn oder Unsinn der Corona-Impfungen) grundsätzlich, aber meist nur partiell. Und weil ich eben mit vielen Deiner Aussagen auch einig gehe oder sie mir plausibel oder zumindest überdenkenswert scheinen, habe ich meinen gelegentlichen Dissens zu einzelnen Deiner Thesen nie geäussert. Man soll unter Freunden Meinungsunterschiede auch tolerieren können, ohne sie immer «ausdiskutieren» zu wollen.
Du willst mir und anderen den Begriff «selbsternannte Querdenker» ausreden, indem Du das Attribut «selbsternannt» im Falle der Querdenker für nicht angebracht, ja widersinnig hältst. Ich kann Dir bei Deiner Argumentation nicht folgen. Ich widerspreche schon Deiner Behauptung: «Selbsternannte Polizisten kann es nicht geben oder selbsternannte Richter». Wenn Du wie ich an der Staubeggstrasse wohntest, würdest Du einen selbsternannten Polizisten kennenlernen. Er sitzt als Rentner tagelang am Fenster seiner Blockwohnung und beobachtet, ob er Autos auf den Parkplätzen der Blauen Zone sieht, die länger geparkt sind, als es die Zeitbeschränkung von 2 Stunden zulässt. Entdeckt er solche Parksünder, greift er zum Telefon und meldet sich bei der Polizei -- der legitimen, nicht etwa einer selbsternannten. Er trägt keine Uniform, ist nicht beamtet und von keiner Behörde ernannt. Er ist eben nur ein «selbsternannter» Polizist. Ich kenne auch «selbsternannte Richter». Auch sie haben kein Richteramt inne, werden von niemandem gewählt oder kontrolliert, und dennoch gefällt es ihnen, zu richten oder Richter zu spielen. Es sind Richter aus eigener Machtbefugnis, oder besser Machtanmassung.
Mein wichtigster Einwand ist: «Querdenker» ist keine Fremdbezeichnung! Es ist ein Etikett, das sich Leute selbst zugelegt haben, die damit ausdrücken wollen, dass sie quer zu gängigen Meinungen und Ansichten, quer zum Mainstream denken und nicht einfach träge mit dem Strom schwimmen. Wer sie also mit diesem selbstgewählten Titel anspricht, bedient sich keiner Polemik und macht sich auch keines Verstosses gegen die im seriösen Journalismus nötige terminologische Exaktheit schuldig. Es liegt jedoch eine stolze Selbstadelung in diesem Begriff «Querdenker» und auch eine Herabwürdigung aller «nicht quer Denkenden» zu unterwürfigen, ja stupiden Opportunisten, die höchstens nach-denken, was ihnen von den Autoritäten, den Meinungsmachern, der «Lügenpresse» vorgedacht wird. Ich empfinde Leute, die sich als prinzipielle «Querdenker» bezeichnen, deshalb als ziemlich arrogant und anmassend. Sie setzen Andersdenkende herab, indem sie diesen unterstellen, sie dächten faul, stromlinienförmig oder seien zu selbständigem Denken (das immer per se «quer» sein sollte) unfähig. Ich würde für mich in Anspruch nehmen, in meinem ganzen Leben immer wieder, ja auf dem Feld der politischen Debatten sogar meistens, quer zur Mehrheitsmeinung gestanden zu haben. Und dennoch fände ich es überheblich, eitel und anmassend, mich deswegen zum «Querdenker» emporzustilisieren. Andere scheinen solche Skrupel nicht zu kennen. Aber weil ihnen dieser Titel keine Akademie der Wissenschaften, kein Rat der Weisen, keine Experten¬kommissionen, nicht einmal repräsentative Meinungsumfragen verliehen haben, sondern sie sich den Orden selbst an die Brust heften, darf man sie meines Erachtens völlig zu Recht als «selbsternannte Querdenker» bezeichnen. Damit kommt lediglich zum Ausdruck, dass sie für ihre Gemeinschaft diesen einen Namen gewählt haben, der ihre Gegner schon dem Wortsinn nach disqualifizieren soll.
Wenn Du die Übergriffe der «Querdenker» – sei es als blosse Massnahmen-Kritiker, als prinzipielle Impfgegner oder gar als Pandemie-Leugner – vor dem Reichstag in Berlin einerseits und die Taten der Erstürmer des Kapitols im Januar 2021 als grundsätzlich nicht vergleichbar postulierst, begehst Du meines Erachtens einen Denkfehler: Vergleichen lässt sich immer nur Ungleiches. Natürlich sind die beiden Bewegungen nicht identisch, und wer sie gleichsetzen möchte, simplifiziert in ungehöriger Weise. Aber die deutschen Massnahmen-Gegner und die amerikanischen Trump-Anhänger eint mehr als der blosse Versuch, ein Parlamentsgebäude zu stürmen. Es sind nicht einmal die vereinzelten Neo-Nazis mit ihren gemeinsamen Emblemen hüben und drüben, die jeden Demokraten zur Wachsamkeit gegenüber beiden Bewegungen anfeuern sollten, es sind gerade die in grosser Anzahl bei beiden Ereignissen auftretenden Esoteriker, Anarchisten und «Autonomisten», die einen Vergleich (keine Gleichsetzung!) geradezu herausfordern. Die nun seit einem Jahr laufenden und von den Republikanern immer wieder torpedierten Untersuchungen gegen einzelne auf dem Videomaterial als besonders vehemente Exponenten erkennbare Kapitol-Erstürmer hat erstaunliche Biografien zu Tage gefördert: Schamanen, Naturheiler, Zivilisationsverächter, Leute, die jahrzehntelang der politischen Linken zugeordnet wurden. Und wenn sie unter dem Gros der Trump-Anhänger auch eine kleine Minderheit sein mögen, so ist dieses Amalgam von Anarchismus und reaktionärem Nationalismus und Demokratie-Verachtung jedem, der sich etwas in der modernen Geschichte auskennt, ein Alarmzeichen. So, als Spange zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten, als Kernfusion zweier vom Ursprung her gegensätzlicher Ideologien, hat der italienische Faschismus seinen Anfang genommen, wie Zeev Sternhell in seiner Untersuchung «Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini», Hamburg 1999, nachgewiesen hat.
Ich will nicht in Alarmismus verfallen und unseren Schweizer «Friiheits-Trychlern» und anderen Massnahmengegner nicht die Bildung einer neuen Rechtsbewegung unterstellen. Aber es irritiert doch, wie schnell sich im Verlaufe der Pandemie Leute vereinigen konnten, die sich noch vor zwei Jahren spinnefeind waren: Evangelikale, die Homöopathie als Teufelszeug brandmarkten, mit Anthroposophen; Autonome, die in Zürich Jahr für Jahr lautstark und manchmal gewaltsam gegen die Demonstranten der Recht-auf-Leben-Bewegung vorgegangen sind, mit eben diesen Abtreibungsgegnern; militante Veganer und Tierschützer mit SVP-Exponenten, denen schon der Begriff «Bio» ein Graus ist. Gerne hoffe ich, diese seltsamen Zweckbündnisse lösten sich auf, sobald das Ende der Pandemie erreicht ist. Wie schön wäre es, wenn das noch diesen Frühling der Fall sein sollte, wie es jetzt gerade scheint. Ich sehne mich nach der Aufhebung der Corona-Massnahmen, nicht weil ich nicht noch ein paar Monate mit Masken, Abstandsregeln und Covid-Zertifikaten leben könnte (das kann ich!), sondern vor allem und in erster Linie, weil ich die Hoffnung hege, mit den «Massnahmen» würden endlich auch die «Massnahmengegner» von der Bildfläche verschwinden und die Querdenker ihren Stein des Anstosses und die Aufmerksamkeit des Publikums verlieren. Dass sich damit auch all die in die Netzwerke der Massnahmengegner eingesickerten antisemitischen, antikapitalistischen, antisozialistischen usw. Verschwörungstheorien und die nun auch in Frauenfeld an den Haustüren militanter Impfgegner sichtbaren Embleme der deutschen Reichsbürger-Bewegung in Luft auflösen werden, wäre zu viel verlangt. Aber die Auflösung dieser unguten Koalition aus vielen anständigen Leuten unterschiedlicher Weltanschauung mit politischen Hasardeuren aller Couleur wird vielleicht doch stattfinden. Hoffen darf man!
Herzliche Grüsse: Hannes
Dr. Hannes Steiner, Historiker / Archivar