Wissenschaft versus Querdenkertum
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- Erstellt: Mittwoch, 29. Dezember 2021 16:31
Zu einer falschen Alternative
Stand Wissenschaft je während so langer Zeit im Bewusstsein der Öffentlichkeit wie heute? Täglich werden ihre Befunde zur Corona-Pandemie kommuniziert. Die Politik beruft sich bei ihren Entscheidungen auf Wissenschaft. Doch auch ohne derartige Öffentlichkeit und die Aktualität einer Pandemie ist nüchtern festzustellen, dass alle wesentlichen Errungenschaften unserer Zivilisation – auch deren Auswüchse – auf wissenschaftlichen Erkenntnisse aufbauen. Mit dieser Feststellung rückt die Ambivalenz der Wirkung von Wissenschaft ins Blickfeld. Vehement diskutiert wurde sie erst gerade im Rahmen der schweizerischen Volksabstimmungen über die Verwendung von Pestiziden in der Landwirtschaft in der ersten Jahreshälfte 2021: Während Jahrzehnten wurde die Landwirtschaft wissenschaftlich auf eine Art beraten und mit Subventionen vom Staat begleitet, die zur Zerstörung der Lebensgrundlagen (Böden und Wasser) führt. Erkenntnisse in Teilbereichen führen zur Entwicklung von (effizienten) Technologien, deren sich das Kapital bemächtigt, um sie grossmassstäblich zu nutzen – immer wieder mit fatalen Konsequenzen. Umweltzerstörungen, das Verschwinden von Insekten und Vögeln, sprechen eine deutliche Sprache.
Eigentlich ist es ein ungeheuerlicher Vorgang: der Mensch macht sich an Lebensvorgängen zu schaffen, ohne dass er einen einigermassen gesicherten Begriff von Leben hat. Das, was sich Naturwissenschaft nennt, hat einen völlig unzulänglichen Begriff von Natur! Eine Vorstellung dieser Ungeheuerlichkeit vermittelt die These, das Corona-Virus sei in einem Labor entwickelt worden und von da entwichen. Der Mensch, ein Zauberlehrling? Laufend setzt er Erkenntnisse (Teilerkenntnisse!) technologisch um, ohne dass gesichert ist, dass er die dadurch in Gang gesetzten natürlichen, sozialen oder psychischen Prozesse bewältigen kann. Wer genau ist der Zauberlehrling? Ist vielleicht die Wissenschaft frei zu sprechen und das Kapital, das deren Erkenntnisse nutzt, zu verurteilen? Das wäre zu einfach.
Im Stichwort «Teilerkenntnisse» steckt ein wichtiger Hinweis. Nicht erst die technologische Umsetzung, sondern bereits der absolut dominante Ansatz aller gängigen Wissenschafspraktiken ist auf Teilbereiche fixiert. Jede wissenschaftliche Arbeit beginnt mit der Abgrenzung des Teilbereichs, der untersucht werden soll. Definitionen stehen am Anfang. «Definition» heisst wiederum nichts anderes als Abgrenzung. Nie wird der Anspruch erhoben, das Ganze ins Auge zu fassen, um sich allenfalls erst dann einem Teilbereich zuzuwenden.
Dies ist allen, die mit Wissenschaft je in Berührung gekommen sind oder sie gar zum Beruf gemacht haben, völlig selbstverständlich. Wie sollte oder könnte es denn anders sein?! Merkwürdig an dieser Situation ist die Tatsache, dass es im ganzen Wissenschaftssystem kaum ein Bewusstsein von der Problematik dieser Situation gibt. Es ist selbstverständlich, dass Teilerkenntnisse produziert werden. Anders scheint Wissenschaft gar nicht möglich zu sein. Wissenschaft beginnt erst nach der «Parzellierung» des in Frage kommenden Erkenntnisgebietes und nach der Definition der Begriffe, die verwendet werden sollen. Was zu den Abgrenzungen führt, wird als vorwissenschaftlich angesehen und liegt damit ausserhalb der Debatte. Es wird allenfalls von der marxistisch inspirierten Wissenschaftskritik thematisiert (siehe beispielsweise Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse). Nicht der Wahrheitsanspruch von Wissenschaft, sondern «nur» deren Einsatz als Herrschaftsinstrument wird hier problematisiert
Die Perspektive, dass der Mensch mit seinen Teilerkenntnissen ins ungeheuer komplexe Räderwerk beziehungsweise den hochentwickelten Organismus der Naturzusammenhänge eingreift ohne zu wissen, was er damit auslösen könnte, ist erschreckend. Dass Wissenschaft sich mit Teilaspekten beschäftigt und sich für das Ganze kaum verantwortlich fühlt, wird aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. – Aber welches wäre denn die Alternative?
Um zu einer Antwort zu kommen, möchte ich einen Blick auf charakteristische Erkenntnishaltungen des Menschen werfen. Dabei lasse ich jegliche Tradition erkenntnistheoretischer Debatten beiseite und fordere zur Selbstbeobachtung auf. Zur Wahrnehmung der Welt steht uns in erster Linie der Sehsinn zur Verfügung. Mit ihm können wir viele Einzelheiten sehr schnell erfassen. Die Erfahrung zeigt, dass wir aus der Menge der Wahrnehmungen ohne Verzug herausgreifen, was uns interessiert. Es ergibt sich umgehend eine Art Hierarchie von wichtigen und unwichtigen Wahrnehmungen bzw. Gegenständen, die ich damit für mich herausgreife, andere, die ich vielleicht gar übersehe. Und weil ich primär auf den Sehsinn abstelle, entgehen mir Aspekte, die mit anderen Sinnen zu erschliessen wären.
Ganz anders ist der Vorgang, wenn wir die Welt mit geschlossenen Augen (oder im Dunkeln) wahrnehmen sollen. Wir sind gezwungen zu tasten. Alles ist zunächst gleich wichtig. Es gibt keine Wertung, keine Hierarchie. Was wir sehenden Auges vielleicht übersehen hätten, wird möglicherweise merk-würdig.
Man könnte die Charakterisierung der beiden Vorgehensweisen weiterführen. Ich schliesse sie an dieser Stelle ab, indem ich sie (mit meinen eigenen Begriffen) benenne: Zuerst habe ich die herausgreifende, dann die ertastende oder abtastende Vorgehensweise skizziert.
Die herausgreifende Vorgehensweise ist schnell beim Teilaspekt, wie ich dies oben skizzierte. Sie korreliert vielleicht den einen mit einem anderen Teilaspekt, Stickstoff mit Pflanzenwachstum – und schon ist ein technologisch verwertbarer Zusammenhang gefunden.
Ertasten oder Abtasten ist längst nicht so schnell und produktiv, bringt aber wesentlich mehr vom Ganzen in Erfahrung. «Tasten» ist natürlich eine Metapher. Die tastende Attitüde können wir uns auch mit dem Sehsinn aneignen. Wer malt oder zeichnet, kennt diese Haltung. Doch nicht eine Kausalität interessiert, sondern der Oikos. Diese Vorgehensweise ist mit einem sehr bekannten Namen verbunden: Johann Wolfgang von Goethe. Was hat ein Dichter in Erkenntnisfragen zu suchen? Als solcher wird Goethe heute fast ausschliesslich gesehen. Er selber hatte eine ganz andere Einschätzung. So sagte er etwa am 19. Februar 1829 zu Eckermann: «Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiss, darauf tue ich mir etwas zugute ... ». Goethe stand in engem Kontakt mit vielen Naturwissenschaftern seiner Zeit (zu den heute noch bekanntesten gehört wohl Alexander von Humboldt) und fand deren Anerkennung, denn er trug mit seinen Erkenntnissen zu vielen Problemstellungen bei, mit denen sich die Naturforscher beschäftigten. Allerdings öffnete sich auch bald die Kluft zu derjenigen Wissenschaftsentwicklung, die ich als «herausgreifend» charakterisiert habe. So schrieb etwa Emil du Bois-Raymond 1882 über Goethe: «Sein Theoretisieren beschränkt sich darauf, aus einem Urphänomen, wie er es nennt, welches aber schon ein sehr verwickeltes ist, andere Phänomene hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild dem anderen folgt, ohne einleuchtenden ursächlichen Zusammenhang. Der Begriff der mechanischen Kausalität war es, der Goethe gänzlich abging.» Goethe oder ein «Goetheanist» würde entgegnen: Mechanische Kausalität ist ein Begriff, der im Bereich der toten Materie gute Dienste leistet, im Bereich des Lebendigen aber zu kurz greift. Kausalitäten fussen immer auf einer beschränkten, herausgreifenden Betrachtung. Im Lebendigen muss mit qualitativen Begriffen, vor allem aber zunächst rein beschreibend gearbeitet werden, ohne auf – beispielsweise kausale – Abhängigkeiten zu schielen.
Etwa ein halbes Jahrhundert nach Goethes Tod, etwa zu der Zeit, als Dubois-Raymond seine Kritik vortrug, griff Rudolf Steiner Goethes Ansatz der Naturforschung auf. Er war Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften und arbeitete dessen Methode in den «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» heraus. Schüler von Steiner demonstrierten mit zahlreichen Monografien die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes. Er ist nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt, sondern dient auch der Beschreibung sozialer und wirtschaftlicher Phänomene. Auch hier kann man zugreifend oder abtastend vorgehen. Eine herkömmliche Arbeit über Geldschöpfung oder Währungsprobleme zögert nicht, eine Geld-Definition an den Anfang einer Studie zu setzen. Goetheanistische Sozialwissenschafter gehen insofern abtastend vor, als sie Geldphänomene, Geldkreisläufe usw. beschreiben, um von einer umfassenden Beschreibung des Ganzen zum Begriff des Geldes und zu einzelnen Fragestellungen zu kommen (so etwa Udo Herrmannstorfer, an dessen Vorgehensweise ich den Begriff des Ertastens ausbildete, der meines Erachtens die Aktivität im Wahrnehmungsvorgang deutlicher ausdrückt als Goethes Begriff des Anschauens).
Die Beschreibung des angeschauten oder ertasteten Phänomens hat – wie schon oben festgestellt – nicht zum Ziel, irgendwelche funktionalen oder kausalen Beziehungen zwischen Elementen aufzuzeigen. «Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so dass sie ihm zu nichts dienen?» (Goethe im Gespräch mit Eckermann am 20.2.1831) Der Goetheanist fragt nicht nach funktionalen oder kausalen Beziehungen, sondern nach der Gestalt. Dabei stösst er immer wieder auf Polaritäten und damit auch auf das Phänomen des Gleichgewichts. Zum Beispiel: Der Mensch hat (wie jedes Säugetier) seinen «Wärmepol» im Stoffwechselbereich, den «Kältepol» im Gehirn. Wenn der Wärmehaushalt aus dem Gleichgewicht gerät, kommt es zu fiebriger Überhitzung. Der goetheanistische Arzt wird nicht in erster Linie die als zu hoch befundene Temperatur (das Symptom) bekämpfen, sondern nach der Ursache des Ungleichgewichts fragen und dieses angehen. Anhand konventioneller Kriterien beurteilt, wird sein Vorgehen (im Vergleich zur Wirkung eines fiebersenkenden Medikaments) meist als wenig wirksam beurteilt werden. Ab es ist wohl nachhaltiger. In meinem Büchlein «Eintopf und Eliten» beschrieb ich zahlreiche soziale Polaritäten, um von diesen zu Gestaltungsvorschlägen zu kommen.
Es ist nicht so, dass die Schule, die Dubois-Raymond vertrat, mit ihrer Effektivität ganz unbestritten war. In dieser Zeit (schon vor Goethes Tod) setzte die industrielle Entwicklung ein, die auf den Errungenschaften der Wissenschaften und Technik basierte. Statt zu deutlich artikulierter Kritik, wie sie beispielsweise Goethe formulierte, führte sie zu Flucht und Rückwärtsgewandtheit. Ein Ausdruck davon war die Romantik. Sie war nicht Goethes, sondern Schillers Sache, wie Goethe Eckermann am 21. März 1830 erklärt: «Der Begriff von klassischer und romantischer Poesie, der jetzt über die ganze Welt geht und so viel Streit und Spaltungen verursacht ... , ist ursprünglich von mir und Schiller ausgegangen. Ich hatte in der Poesie die Maxime des objektiven Verfahrens und wollte nur dieses gelten lassen, Schiller aber, der ganz subjektiv wirkte, hielt seine Art für die rechte, und um sich gegen mich zu wehren, schrieb er den Aufsatz über naive und sentimentale Dichtung.» Die Romantik öffnete den Zugang zum Mittelalter, das Goethe wenig interessierte, zu den Märchen (z.B. die Sammlung der Brüder Grimm), zu einer Welt, die von der aufkommenden Industrialisierung noch nicht berührt war. In der Lebensreformbewegung fand diese Abwendung von der kühlen Rationalität von Wissenschaft und Technik eine lebensnahe Umsetzung in der Ernährung (Reformhäuser), der Wohnweise (Gartenstädte), in der Wandervogelbewegung und der Erziehung (Reformpädagogik). Doch Abwenden ist nicht Auseinandersetzen. Heute werden Errungenschaften von Wissenschaften und Technik dann und wann in bestimmten Themenbereichen problematisiert – nicht aus der Wissenschaft heraus, sondern vonseiten einer engagierten Öffentlichkeit. So gibt es eine starke Opposition gegen das immer weiter gehende Eindringen des Menschen in die Grundbausteine der Materie (Atom) und des Lebens (Gen), vor allem gegen deren Nutzung. Der Umgang mit Strahlungskritikern (5G) zeigt, dass die Beweislast in solchen Situationen den Kritikern zugeschoben wird. Nicht diejenigen, welche eine neue Technologie einführen wollen, müssen deren Unbedenklichkeit aufzeigen, sondern die Kritiker müssen die Schädlichkeit nachweisen (wobei die Anforderungen an die Nachweise von denjenigen vorgegeben werden, die die neue Technologie vertreten). Doch auch diese Opposition hat bisher nicht zu einer Auseinandersetzung auf dem Niveau der wissenschaftlichen Grundfragen geführt.
Kaum je stand Wissenschaft während so langer Zeit im Bewusstsein der Öffentlichkeit wie jetzt. Sie erklärt, wie Viren übertragen werden und entwickelt auf mRNA-Basis Abwehrstoffe. Auch wenn die Entwicklung der Pandemie ständig Haken schlägt und die Ziele des Schutzes durch Impfung nicht erreicht werden und man inzwischen zufrieden ist, wenn Krankheitsverläufe nach Impfung weniger schwer ausfallen, erscheint der Kampf gegen das Virus wie eine alternativlose Bestätigung dieser Art von Wissenschaft und Technik, deren lebensfeindliche Auswirkungen erst gerade intensiv diskutiert worden sind. Allen anderen (leider oft linkischen oder obskuren) Versuchen der Erklärung und der Abwehr der Virus-Erkrankung wird mit dem Vorwurf des Querdenkertums die Legitimität entzogen. In der gegebenen Situation bleiben möglicherweise keine Alternative zur Impfung, so wie auch Goethe am 19. Februar 1831 konzedierte: «Dennoch aber bin ich dafür, dass man von dem strengen Gebot der Impfung auch ferner nicht abgehe ...» Eine wirkungsvolle Krisenintervention in Form einer Impfkampagne ist aber nicht per se schon ein nachhaltiges Gesundheitskonzept. Nach Bewältigung der aktuelle Krise müssen die im Raum stehenden Fragen aufgegriffen werden. Mit diesem Aufsatz versuchte ich, einige Hinweise zu formulieren.