Was bedeutet «Windows of Opportunity»?
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- Erstellt: Samstag, 11. März 2023 16:59
Meine naive Sicht
1965 war ich als Jugendlicher in Israel. Es war eine Zeit der unbegrenzten Sympathie für das tapfere und tüchtige jüdische Volk, das sich erfolgreich gegen seine feigen Gegner wehrte, wie man das damals empfand. Diese Sichtweise war mindestens in christlichen Kreisen verbreitet. Für Sozialisten kamen die Kibutzim hinzu, die Ideen wie Gemeineigentum usw. umgesetzt hatten. Kurz: die Begeisterung in der Schweiz und in unserer Reisegruppe, einem Chor und Orchester mit alten Instrumenten, war gross. Auch die Begeisterung der Zuhörer der vielen Konzerte in Israel war offensichtlich.
Es geschah öfter, dass einhellige Begeisterung meine Skepsis weckte. Jedenfalls beschäftigte ich mich nach der Reise während Jahren – eigentlich bis heute – mit diesem Nebeneinander und Ineinander von zwei Völkern in Palästina. Ich lernte den Bürgermeister eines palästinensisch-israelischen Städtchens und seine Schwierigkeiten kennen. Ich blieb im Briefkontakt mit einem Musikprofessor in Jerusalem. Ich las Artikel und Bücher wie dasjenige von Sari Nusseibeh, dem gebürtigen Jerusalemer Philosophen und Rektor der Al-Quds-Universität.
Anfangs beschäftigte mich die Frage, wer in diesem Konflikt im Recht sei. Denn ich glaubte damals, dass die Beantwortung der Frage nach der Rechtmässigkeit auch zur Lösung des Konflikts führen müsste. Mit anderen Worten: ich nahm genau die Haltung ein, die in Bezug auf die Ukraine derzeit in verschiedensten Foren diskutiert wird. Mit Heftigkeit wird heute auf die Verletzung des Völkerrechts durch Russland hingewiesen (und von niemandem bestritten), während andere mindestens eine Mitschuld, wenn nicht gar den Auslöser beim Westen, v.a. der USA sehen (siehe beispielsweise die Kommentare am Schluss). Die Ukraine selber beziehungsweise ihr Präsident wiederholt verständlicherweise immer wieder, dass die Auseinandersetzung erst beendet sei, wenn die rechtmässigen Grenzen von vor 2014 wieder hergestellt seien.
Für sehr viele Konflikte ist dieses Verhalten typisch. Weshalb soll man denn seine gerechten Ansprüche aufgeben? Und trotzdem werden Konflikte zwischen Staaten oder Volksgruppen kaum je dadurch beendet, dass altes Recht wiederhergestellt wird – man denke an Nordirland oder an den schweizerischen Jurakonflikt. Dies wird besonders dann gar nicht möglich sein, wenn seit Beginn der Grenzüberschreitungen viel Zeit vergangen ist. Denn in dieser Zeit sind (z.B. auf der Krim) ursprüngliche Bewohner ausgewandert und andere eingewandert. Altes Recht kann deshalb schnell zu neuem Unrecht werden. Konflikte werden nicht durch Sieg oder Niederlage gelöst, sondern durch Verhandlungen. Ende der Kriegshandlungen und Verhandlungen zur Forderung zu erheben, wie dies derzeit vehement geschieht, kann aber ebenso realitätsfremd sein, wie die Forderung, den Zustand der Rechtmässigkeit wieder herzustellen.
Vor diesem Hintergrund ist das konkrete Postulat zu sehen, das der Konfliktforscher Friedrich Glasl kürzlich in einem Interview formuliert hatte: Es gebe in jedem Konflikt «Windows of Oppotunity». Diese gelte es zu nutzen (siehe die beiden Interview-Passagen aus dem Interview am Schluss).
Vergangenheitsurteile bilden oder auf Zukunft Einfluss nehmen
Damit sind zwei ganz unterschiedliche Haltungen angedeutet: Recht-haben bezieht sich auf die Vergangenheit – dazu gehören auch die meisten Urteile in den Kommentarspalten. Handlungsoptionen, auch wenn sie nur wenig Erfolg versprechen, beziehen sich auf die Zukunft. Sie können den Automatismus der Konflikteskalation bremsen oder brechen. Während in den Kommentaren viele Urteile präsentiert werden (d.h. von Vergangenheit die Rede ist), sind Handlungsoptionen (Zukunft) selten ein Thema.
Was kann man sich unter einem solchen «Fenster» vorstellen? Ich erinnere daran, dass China Ende Februar einen Friedensplan präsentiert hat. Offensichtlich passte dieser Vorstoss in kein Framing. Ich kenne in der Schweiz kein einziges Medium, das inhaltlich darüber berichtet hatte. Sowohl NZZ wie Tagesanzeiger wie Radio/Fernsehen srf ebenso wie CH Media und Wochenzeitung WOZ liessen es bei einer Notiz bewenden, ohne auf den Inhalt des Vorstosses einzugehen, geschweige denn, diesen zu diskutieren. Klar kann man Vorstössen Chinas gegenüber a priori jede Menge Vorbehalte anbringen. Aber einen solchen Akt einer Weltmacht einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen bzw. zur Kenntnis zu bringen, ist sicher keine Handlungsweise im Sinn einer Konfliktminderung (und auch ein Affront China gegenüber).
Das einzige mir bekannte Medium, das den chinesischen Vorstoss im Wortlaut wiedergab, war infosperber.ch. Der erste Absatz des chinesischen Vorstosses ist betitelt mit (übersetzt): «Respektierung der Souveränität aller Länder.» Von territorialer Unversehrtheit ist da die Rede. Selbstverständlich kann man die Bedeutung und die Motive eines solchen Textes hinterfragen. Dann fällt man wieder zurück in die eigene Urteilsbildung. Darum geht es aber nicht. Es würde darum gehen, dass die wichtigsten westlichen Staaten zusammen mit China und der UNO solche Postulate aufgreifen und mit Russland in Kontakt treten. Vielleicht sagen nun viele: Wahrscheinlichkeit des Scheiterns eines solchen Vorstosses ist mindestens 95%. Ich würde dann antworten: Vor dem Hintergrund eines zerstörerischen und tödlichen Konflikts ist es zynisch, eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 5% vorbeigehen zu lassen.
Auf eine solche Initiative («Respektierung der Souveränität») müssten sich ohnehin alle, die mit der Ukraine solidarisch sind, geradezu stürzen. Warum wird ein solches «Window of Opportunity» nicht geöffnet? Ohne mich dem US-Bashing oder entsprechenden Verschwörungserzählungen anschliessen zu wollen, kann ich nur die Erklärung finden: Eine solche Initiative passt schlicht nicht in die forcierte Polarisierung der USA gegenüber China. China als Friedensbotschafter? Kommt doch gar nicht in Frage. Und so lassen es unsere (US-solidarischen) Leitmedien bei einer kleinen Notiz bewenden und die Politiker treten schon gar nicht darauf ein.
Windows of Opportunity öffnen sich nicht alle Tage – aber oft unerwartet. Deshalb muss sich der Westen auf verschiedenste Möglichkeit vorbereiten, vor allem auch auf die Möglichkeit, sich im Hinblick auf denkbare Konfliktlösungen von den USA zu emanzipieren. Solche Vorbereitungen müsste vor allem auch die Schweiz treffen. Man kann beliebig lang über die Interpretation der Idee und der Praxis des Neutralitätsstatuts diskutieren. Auch diese Diskussionen werden eher vergangenheits- als zukunftsorientiert geführt. Es würde der Schweiz nicht schlecht anstehen, als Verfechter internationalen Rechts (Depositärstaat der Genfer Konvention) das chinesische Papier aufzugreifen und zu sagen: Genau das ist unser grundsätzliches Anliegen, die territoriale Unversehrtheit, die «Respektierung der Souveränität aller Länder.»
Zwei Passagen aus dem Interview mit Friedrich Glasl
dasgoetheanum.com/windows-of-opportunity-fenster-des-friedens
Tatsächlich sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Fortsetzung des Krieges von Kiew, Moskau, Washington und Brüssel gewollt wird. Damit meine ich nicht die EU, sondern die Nato. Es wird keine Alternative in der Diplomatie gesucht, weil sich die kriegführenden Parteien festgelegt haben. Und doch gibt es immer wieder Möglichkeiten, aus der Kriegslogik in eine Friedenslogik zu kommen. Ich spreche immer wieder von ‹Windows of Opportunity›, die sich für kurze Zeit öffnen. Wenn man die nicht nutzt, dann geht dasFenster wieder zu, aber es öffnen sich neue! So wie zum Beispiel bei den Vereinbarungen, Getreide aus den ukrainischen Häfen zu verschiffen. Das hätte noch vielmehr genutzt werden können. Da waren die Interessen nicht so weit auseinander. Es gelang ein Miteinander, weil alle Interessen berücksichtigt wurden und nicht nur jene der Ukraine. Die UNO und die Türkei bzw. Erdogan haben da viel erreicht.
So gab es zum Wochenende vom 17./19. Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz die Ankündigung der chinesischen Regierung, am 24. Februar einen Plan zur Vermittlung vorzulegen. Der hatte sofort Kommentare maßgeblicher Politiker und Politikerinnen im Sinne der Kriegslogik zur Folge: «Das kann nichts Seriöses sein! Das ist hinterhältig und dient den Interessen Chinas und Russlands! China will damit nur in der Welt Unterstützergewinnen! Und wenn der Plan abgelehnt wird, gibt Moskau dem Westen die Schuld!» Das ist ein ‹Window of opportunity›, das genutzt werden muss, damit ein Ende des Krieges denkbar wird. Wichtig ist, dass es überhaupt zu Gesprächen kommt – man kann nicht Ergebnisse zur Bedingung machen.
Aus zwei Kommentaren zum Interview:
(Erster Kommentar): Wenn Sie, Herr Glasl, Kommunikationsforscher sind und tatsächlich geglaubt haben, die, naja, „Friedensinitiative“ aus China in diesen Tagen wäre substantiell ernst zu nehmen, dann kann ich mich nur wundern. China hat einen massiven Einfluss auf Russland, wenn die gewollt hätten, das Frieden ist, hätten die doch auch schon vor 11, 5, oder 3 Monaten etwas entsprechendes starten können. Was sollen denn die Menschen in Butcha, Mariupol oder Charkiv sagen, zu den unverbindlichen Allgemeinheiten der chinesischen Initiative?
(Zweiter Kommentar:) Die wirkliche Achse des Bösen geht mitten durch die Elite der USA. In deren Auftrag operiert die CIA etc. weltweit. Das kleine Würstchen Olaf Scholz steht neben Biden vor dem Mikrofon und hört sich an, wie Biden ihm erklärt, dass die USA die Nordstream Pipelines beenden (sprengen) werden. Das ist ein staatlich angeordneter Terrorakt. Biden und Scholz müssen sofort eingesperrt werden!!!