Der Kapitalismus und seine (Nicht-) Versprechen

Kann man eine Sache kritisch würdigen, ohne sie zunächst einigermassen sorgfältig beschrieben zu haben? Rainer Hank, Redaktor und Publizist, kann das. Er zählte die Errungenschaften des Kapitalismus auf – abzulesen an positiven Entwicklungen in den Bereichen: Wachstum, Lebenserwartung, Armut, Kindersterblichkeit, Lebenszufriedenheit, Wasser, Energie und medizinische Basisversorgung, Bildung – eine Erfolgsgeschichte nach der anderen. Alles dem Kapitalismus zu verdanken? Problematische Aspekte? Keine (so mindestens im Artikel, den die NZZ am 24. Februar 2024 publizierte). Unter Kapitalismus versteht Hank «eine Wirtschaftsweise, die die Produktion von Gütern, Dienstleistungen und Finanzen dem Markt überlässt, auf dem das (mehr oder weniger) freie Spiel von Angebot und Nachfrage den Preis bestimmt.» Mit dieser Gleichsetzung von Kapitalismus mit Marktwirtschaft ist Hank nicht allein. Weil «Markt» einen unverfänglicheren Klang hat als das oft negativ konnotierte «Kapital», tendieren etliche Autoren dazu, «Kapitalismus» durch «Marktwirtschaft» zu ersetzen. Camouflage also. Richtig ist das nicht.

Erst nach der Lektüre des Textes in der Printausgabe entdeckte ich, dass Hank seine Eloge auf den Kapitalismus für das NZZ-Podium vom 8. Februar 2024 ausgearbeitet hatte. Diese Veranstaltung trug den Titel: Leistung, Gleichheit, Gerechtigkeit – erfüllt der Kapitalismus seine Versprechen? Der Titel der Veranstaltung hätte zwar eine «kritische Würdigung» nahegelegt. Allerdings kündigte Martin Meyer, der das Podium eröffnete, Hanks Referat mit dem Thema an: «Die Vorzüge des Kapitalismus». Hank war also davon dispensiert, eine kritische Würdigung vorzutragen. Davon ahnt der Leser des Textes «Der Kapitalismus und seine Verheissung» in der NZZ vom 24.2.2024 allerdings nichts. Hanks Ausführungen waren denn – zumindest im Zeitungstext – auch von keiner Infragestellung getrübt. Eher im Gegenteil: eine Metaphorik von Wilhelm Hauff («Das kalte Herz») bemühend, formulierte er: «Man könnte in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss und in Umkehrung der Metapher Wilhelm Hauffs sagen: «Die Menschenwelt war bis etwa 1820 eine ‹kalte Gesellschaft› ,danach wurde sie eine ‹warme Zivilisation›, die das Leben für alle Menschen verbesserte, wenn auch nicht für alle in gleichem Masse.» So blieb denn SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr (neben SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr, Christian Gattiker von der Bank Julius Bär und Rainer Hank) die Einzige auf dem NZZ-Podium, die von kühlen Winden des Kapitalismus zu berichten wusste. Sie kam beispielsweise auf die Wohnungsnot zu sprechen. Früher hätten auch Arbeiter ein Haus bauen können. Heute sei dies selbst für den Mittelstand aussichtslos. Christian Gattiker «erdete» diese dem Kapitalismus zugeschriebene Negativ-Erfahrung: sie habe mit der Knappheit des Bodens zu tun. Klar. Und Knappheit bedeutet, dass Bodeneigentümer exorbitante Preise verlangen können und dürfen. Die Preisfestsetzung wird durch Angebot und Nachfrage diktiert. Daran ist nicht zu rütteln. Und die Idee, dass Boden als nicht produziertes und nicht vermehrbares «Gut» wie eine Ware behandelt werden kann, ist die Grundlage unserer Freiheit. So etwa die mit Zähnen und Klauen verteidigte unschweizerische Ideologie, wie Jacqueline Fehr mit ihrem Hinweis auf die eidgenössische Traditionen der Genossenschaften, Alpkorporationen, Allmenden und Bürgergemeinden meinte.

Kapitalismus ist Marktwirtschaft, lesen und hören wir (siehe oben; NZZ 24.2.2024). Voraussetzung sei ein staatlicher Ordnungsrahmen und Respektierung des Privateigentums, so Hank. Das war’s dann schon. Und dann blieb dem Referenten nur noch, die Errungenschaften des Kapitalismus aufzuzählen und mit Grafiken zu illustrieren – wie oben bereits erwähnt: Wachstum, Lebenserwartung, Armut, Kindersterblichkeit, Lebenszufriedenheit, Wasser, Energie und medizinische Basisversorgung, Bildung – eine Erfolgsgeschichte nach der anderen. Alles dem Kapitalismus zu verdanken?

Welchen Anteil am Produktivitätsfortschritt hat beispielsweise die Arbeitsteilung, deren wirtschaftlichen Effekt bereits Adam Smith beschrieben hatte? Ist die wissenschaftliche und technologische Revolution eine Errungenschaft des Kapitalismus oder dieser eher eine Folge der technologischen Revolution (und der Akkumulation des Kapitals)? Inwiefern ist die «Respektierung des Privateigentums» eine Voraussetzung für gedeihliche Entwicklungen? (Es gibt erfolgreiche Grossgenossenschaften / Stiftungen wie Coop, Migros, Die Mobiliar, Bosch usw. Die Berner Burgergemeinde (Gemeingut!) ist ein äusserst erfolgreiches Unternehmen.) Welche Rolle spielte die Ausbeutung der Arbeitskraft, wie sie beispielsweise bei Produktion und Vermarktung der On-Sneakers vorgeführt wird? Und so weiter. Es ist intellektuell doch sehr einfach gestrickt, wenn die (positiven) Entwicklungen verschiedenster Grössen aufgezählt und diese pauschal «dem Kapitalismus» gutgeschrieben werden, während problematische Entwicklungen völlig ausgeblendet bleiben.

Auch wenn es nicht Hanks Aufgabe gewesen zu sein scheint, den Kapitalismus kritisch zu würdigen, stellt sich die Frage nach Grundlagen und Zusammenhängen. Wenn Hank eine Reihe von Entwicklungen als Erfolge des Kapitalismus darstellt, dann müsste Konkreteres über diese «Ursache Kapitalismus» ausgeführt werden, insbesondere, wenn der Kapitalismus in Hanks Verständnis mit Marktwirtschaft gleichgesetzt wird. Hier deshalb von meiner Seite ein Versuch, den Begriff «Kapitalismus» zu umschreiben:

Dienende Funktion. Produktion und Handel benötigten schon lange vor 1800 Kapital. Den Beginn des Kapitalismus unserer Zeit sieht man in der Regel um die erwähnte Jahrhundertwende. Vorher kam dem Kapital fast immer eine rein dienende Funktion zu. Es half, eine produktive Idee umzusetzen, einen wirtschaftlichen Mehrwert zu generieren. Als Kapitalismus bezeichne ich hingegen diejenige Wirtschaftsweise, in der das Mittel (das Geld-Kapital) seine dienende Funktion verliert und selber zum Zweck wird – während die dienende Funktion des Kapitals in Wirtschaft und Gewerbe weiterhin erhalten bleibt. Meine eigene Erfahrung mit dieser Art von Kapital als Unternehmensgründer und -entwickler hat mir dazu viel Anschauungsmaterial geliefert.

Finanzkapitalismus. Kapitalismus ist also diejenige Wirtschaftsweise, in der Kapital mehr und mehr zum Produktionsmittel wird, um weiteres (Geld-) Kapital zu generieren (Ergebnis: leistungsloses Einkommen). Produktionsweisen wirtschaftlicher Güter und Dienstleistungen, die Kapital einsetzen, erzeugen Mehrwert. (Finanz-) Kapitalismus, der lediglich Bewertungsdifferenzen ausnützt, erzeugt keinen (wirtschaftlichen) Mehrwert. Ebenso wenig die Negativkampagnen der Short-Sellers, die Aktienkurse gezielt zum Einbrechen führen, um sich die Mehrheit einer Gesellschaft billig anzueignen. Von den Wirkungen des Finanzkapitals war auf diesem Podium nicht die Rede. Der Verzicht auf die Differenzierung von dienender versus spekulativer Rolle führt dazu, dass Kleingewerbler (dazu lässt sich die Podiumsteilnehmerin Gutjahr zählen) sich mit Investmentbankern gegen die «linken Feinde des Kapitalismus» solidarisieren können.

Externe Kosten. Kapitalismus mit seiner Gewinnfokussierung ist eine Wirtschaftsweise, die sich nicht um externe Kosten kümmert. Davon war auf dem Podium nicht die Rede. Deshalb wehren sich Kapitalismus-nahe Parteien traditionellerweise gegen Verpflichtungen zur Übernahme externer Kosten durch die Verursacher. Finanz-Kapitalismus ist dasjenige System, das jede technische Innovation, die leistungslose Renditen verspricht, zulässt – beispielsweise vor Jahren den Hochfrequenzhandel mit der Ausrede, je liquider der Markt sei, desto perfekter funktioniere dieser (in Bezug auf den Wohnungsmarkt gibt es keine Liquiditätspostulate!); inzwischen haben die Kryptowährungen Einzug gehalten. Welchen Mehrwert erzeugen diese?

Kommodifizierung. Typisch für den Kapitalismus ist ferner die Kommodifizierung (zur Ware machen) von Werten, die bislang dem Geld- und Tauschverkehr nicht unterlagen. Davon war auf dem Podium nicht die Rede. Beispiele dafür finden sich in Naturzusammenhängen – ein prominentes Beispiel in der Schweiz ist das Tourismus-Projekt des Ägypters Sawiris in Andermatt. Alpen werden zu Vergnügungsparks, naturnahe Gebiete mit grosser Diversität zu Intensivlandwirtschaft. Quantitativ bedeutender ist die Ausbeutung der Rohstoffe weltweit, Fischerei eingeschlossen. «Freiheitliche» beziehungsweise kapitalistisch orientierte Parteien setzen sich ausserdem für möglichst grenzenlose Eingriffe in die «Unternatur» ein, sei es im Bereich Gentechnologie oder Kernenergie. Risiken treten in den Hintergrund. Die Patentierung von Organismen verspricht beträchtliche Gewinne (Beispiel Monsanto).

Verantwortung / Moral. Die Fokussierung auf den Gewinn (bzw. den Shareholdervalue) führt zur Ausblendung von traditionellen sozialen Grenzen der Wirtschaft. Auf dem Markt oder im traditionellen Handel der italienischen Kaufleute schauten sich die Wirtschaftspartner in die Augen. Auf dem Wochenmarkt tun sie es noch heute. Diese Face-to-face-Wirtschaft setzte moralische Grenzen. Im Kapitalismus fallen sie weg. Roger Federer wird vermutlich nicht rot vor Scham, wenn offenbar wird, dass die Unternehmung in seinem Miteigentum der Herstellerfirma in Vietnam weniger als einen Zehntel des Ladenpreises hierzulande zahlt. Er muss ja auch nicht rot werden. Thomas Fuster fragte in der NZZ vom 23. Januar «wo hier das Problem sein soll. Produkte in fernöstlichen Schwellenländern billig herzustellen, um sie dann in kaufkräftigen Industrieländern teuer zu verkaufen, ist kaum eine Erfindung von On, sondern das Geschäftsmodell zahlloser Firmen.» Dass die Ertragsverteilung in der Wertschöpfungskette verantwortungsbewusst gehandhabt werden sollte, ist offenbar nur eine Idee wirklichkeitsfremder Fairtrader. Im Rohstoffgeschäft ist Korruption ohnehin gang und gäbe. Verlierer sind die Bevölkerungen in den Rohstoff-exportierenden Ländern. Wenn entsprechende Berichte in die Öffentlichkeit geraten, spricht man nicht von einem moralischen Versagen, sondern von Image- oder Reputationsschäden. Ein Lieferkettengesetz («Konzernverantwortung») könnte verlorene Transparenz und «soziale Nähe» ein Stück weit wieder herstellen. Jacqueline Fehr holte zu einem engagierten Plädoyer für das Wahrnehmen von Verantwortung aus. Rainer Hank darauf: «Verantwortung ist ein unglaublich schwammiger Gummibegriff, unter dem ich mir nicht so arg viel vorstellen kann.» (Sollte ich ihm mein Buch «Solidarwirtschaft. Verantwortung als ökonomisches Prinzip» senden?)

Kapitalstau. Ein geradezu lehrbuchartiges Beispiel für eine kapitalistische Lösung ist die 2. Säule der Altersvorsorge in der Schweiz, die nach dem sogenannten Kapitaldeckungsprinzip funktioniert. Sie macht jeden Lohnabhängigen zum Mitspieler im kapitalistischen System. Während das Umlageverfahren der 1. Säule nur relativ bescheidene Verwaltungskosten verursacht, ist jeder Rentenfranken der 2. Säule von 35 mal (!) höheren Verwaltungskosten belastet als der Rentenfranken der AHV. Davon ist in den Vorsorgediskussionen nie die Rede. Wären 1. und 2. Säule Konkurrenzunternehmen, müsste die 2. Säule umgehend Konkurs anmelden – viel zu teuer! Wahrscheinlich ist die Belastung des Rentenfrankens durch die Versicherten- und Kapitalverwaltung allerdings das viel kleinere Problem. Dramatischer ist der Kapitaldruck in den Märkten. Es ist längst nicht nur die Knappheit des Baulands, das die Bodenpreise in die Höhe treibt, sondern die Konkurrenz um Anlagemöglichkeiten. Wer keine warme Stube findet, mag sich an Reiner Hanks Euphemismus erwärmen, wonach wir in einer ‹warmen Zivilisation›, die das Leben für alle Menschen verbesserte, leben.

Nochmals zurück zur Frage der Kausalität und zur Podiumsdiskussion: Jacqueline Fehr stellte die These auf, dass der Kapitalismus nur deshalb und nur da erfolgreich ist, wo er durch soziale Gesetze eingezäunt, gezähmt oder abgefedert ist. Ja, sie formulierte gar die These, dass der Wohlstand dort am höchsten sei, wo Gleichheit mit staatlichen Massnahmen am weitestgehenden realisiert ist. Rainer Hank erwiderte, dann müsste der Wohlstand in Deutschland viel höher sein als in der Schweiz. Denn Deutschland stecke viel mehr in den Sozialstaat als die Schweiz. Das Gegenteil ist also der Fall. Fehr: Es komme nicht darauf an, was man hineinstecke, sondern was herausschaut. Und da sei die Schweiz eben besser. Rainer Hank schaute etwas verdutzt in die Runde.

Der Kapitalismus sei, wie wir dem Referat von Rainer Hank entnehmen, ein Erfolgskonzept. Die Freisinnig-demokratische Partei «ist seit 1848 der Garant des Erfolgsmodells Schweiz» (Website FDP). Wie diese Erfolge zustande kommen, wird durch Beiträge wie demjenigen von Rainer Hank nicht deutlich. Der politische Gegenpol formuliert expliziter: «Für uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen gilt das Primat von Demokratie und Politik. Dieses Primat geht im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung der wirtschaftlichen Wertschöpfung, der blossen Nutzenebene vor. Es erfordert die Überwindung des Kapitalismus, der unsere Gesellschaft auf eine blosse Marktgesellschaft und die sozialen Beziehungen auf den blossen Tausch von Vorteilen reduziert.» (SP-Parteiprogramm 2012) Der Kapitalismus soll überwunden werden, was den Jungsozialisten besonders am Herzen liegt. Was das heissen und daraus werden soll, ist für mich ebenso «schwammig» wie für Rainer Hank der Begriff der Verantwortung. Oft sprechen Linke von Gesellschaft und Solidarität, wo in der politischen Praxis dann ein kritikloser Etatismus durchschlägt. Der sei immerhin demokratisch legitimiert. Für mich nicht sehr tröstlich.
Gemäss der «offiziellen» Berichterstatterin der Veranstaltung, Stephanie Caminada, sei auf dem Podium das gegenwärtige Gesellschaftsmodell verteidigt worden, während sich Jacqueline Fehr «allein auf einen anderen Standpunkt» gestellt habe. Wer aufgrund dieser Feststellung bei Jacqueline Fehr nun einen revolutionären Standpunkt vermutet, liegt falsch. Denn die mehrmals erwähnte Einzäunung oder Einhegung des Kapitalismus ist (mindestens für sie) bereits ein Stück Überwindung. Das dürften jüngere Genossinnen und Genossen etwas anders sehen. Wahrscheinlich tragen die Anliegen Fehrs und ihrer Gesinnungsgenossinnen und -genossen massgeblich zur Rettung des Kapitalismus bei. Kapitalismus ohne «Zähmung» würde sich selber in Konflikten zerstören und wäre nicht überlebensfähig. Das haben die Vertreter des Kapitalismus nur noch nicht gemerkt.