Wagenknecht: Die Selbstgerechten

Die Entwicklung ist bekannt: im 19. Jahrhundert zogen die brot- oder erwerbslosen Menschen zu Tausenden in die Städte, um in der Industrie Arbeit zu finden. Es entstand die Arbeiterklasse. Der Begriff der Klasse wurde von Soziologen allerdings schon früh hinterfragt. Denn die Arbeiter verwendeten für sich in der Regel nicht den Begriff «Arbeiter», sondern sie bevorzugten Berufsbezeichnungen: Drucker, Maschinenführer, Modellschreiner usw. Trotzdem war die gemeinsame Not und waren die sozialen Gemeinsamkeiten gross genug, um sich gewerkschaftlich zu organisieren und gegen Ausbeutung anzukämpfen.

Die Fabriksäle mit einem Arbeiter oder einer Arbeiterin neben dem/der anderen, welche das gemeinsame Arbeiterschicksal sicht- und erlebbar machten, sind verschwunden. Die Arbeitswelt hat sich fundamental geändert. Die Einwanderung aus sehr unterschiedlichen Kulturen hat die erlebbaren Gemeinsamkeiten aufgelöst. Geblieben sind die sozialdemokratischen Parteien, die sich für die Interessen der Arbeitenden einsetzen wollen. Die Parteimitglieder gehören nur noch selten der «working class», viele gehören der akademischen Elite an. Gleichzeitig sind die Unterprivilegierten zu rechtsstehenden, populistischen Parteien abgewandert. Durch die Bücher von Didier Eribon, der im gewerkschaftlich geprägten Arbeitermilieu aufgewachsen war, wird der Wandel erlebbar. Seine ursprünglich gewerkschaftlich orientierten Eltern folgten schliesslich dem Front National.

Etwa in diesem Szenario spielt Sahra Wagenknechts Buch «Die Selbstgerechten». Selbstgerecht sind (aus ihrer Sicht) die Politiker der sozialdemokratischen Parteien, die im Buch meist «Linksliberale» heissen, die sie aber lieber als «Linksilliberale» bezeichnen würde. Vor allem im Anfangskapitel («Moralisten ohne Mitgefühl») ist ihre Bezeichnung «Lifestyle-Linke». Die Titel der einzelnen Abschnitte sagen viel über den Inhalt: «Die Lifestyle-Linke»: «weltläufig und sprachsensibel», «Bessergestellte unter sich», «Die Wähler ergreifen die Flucht».

Der Untertitel des Buchs verwendet zwar den Begriff «Gegenprogramm». Dass es sich bei diesem Buch um ein Programm handeln könnte, wird man beim Lesen leicht vergessen. Im Zentrum des Buchs steht die Beschreibung einer Gesellschaft und Wirtschaft mit ihren Veränderungen mit sehr vielen zutreffen-den Beobachtungen und Analysen, meist gut belegt, manchmal auch etwas «freihändig» wirkend. Aber nur schon deshalb eine lohnende Lektüre.

Ablesen lässt sich Programmatisches anhand von Wagenknechts Kritiken, z.B. des Multikulturalismus, dessen Entstehung sie anhand des Beispiels der englischen Stadt Birmingham darstellt. Die Stadt lud Vertreter von ethnischen Gruppen zur Lösung von anstehenden Problemen ein. Damit «begannen sich Menschen mehr und mehr in diese Kategorien zu definieren und sich verstärkt von der Mehrheitsgesllschaft … abzugrenzen.» (S. 117)

Besonders sprechend ist das Beispiel der inkorrekten «Zigeunersauce», das von vielen Rezensenten aufgegriffen worden ist: Wegen der Rassismusdebatte in den sozialen Netzwerken, teilte das Unternehmen im August 2020 mit, werde der Knorr-Klassiker Zigeunersauce ab sofort unter neuem Namen als «Paprikasauce Ungarische Art» in den Supermarktregalen zu finden sein. Die Kampagnenleiter der Korrekten feierten den Erfolg. Freilich, der verschlechterte Tarifvertrag, den Unilever fast zeitgleich zum heroischen Abschied von der Zigeunersauce den 550 verbliebenen Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn mit der Drohung aufgezwungen hatte, den Betrieb andernfalls ganz zu schließen, besteht unverändert. Er bedeutet für die Knorr-Beschäftigten Personalabbau, niedrigere Einstiegsgehälter, geringere Lohnsteigerungen und Samstagsarbeit. Anders als die Zigeunersauce hatte all das allerdings nie für bundesweite Schlagzeilen oder gar für einen Shitstorm der sich links fühlenden Twitter-Gemeinde gesorgt.

Korrekte Sprache und Schreibe ist aus Sicht von Wagenknecht ein Herzensanliegen der Eliten. Sie selber will sich um die Sorgen der Unterprivilegierten kümmern. Dazu gehört unter anderem eine restriktivere Einwanderungspolitik. Sie plädiert für Entglobalisierung, für den Nationalstaat. Treibstoffverteuerung als Element der Umweltpolitik lehnt sie ab, da es die Unterprivilegierten besonders treffe usw. Wenn man die daraus abgeleiteten politischen Postulate auf schweizerische Verhältnisse überträgt, landet man im Bereich von SVP-Forderungskatalogen. Nicht erstaunlich, dass die AfD ihr Beifall zollt und sie sich Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Partei Die Linke eingehandelt hat.

Eins zu eins entspricht ihr «Gegenprogramm» allerdings nicht den Vorstellungen von AfD oder SVP. Wagenknecht argumentiert durchaus von einem antikapitalistischen Standpunkt aus. Und sie präsentiert dazu sogar einen Vorschlag, wie er von linker Seite trotz Juso-Forderung nach «Überwindung des Kapitalismus» meines Wissens noch nie vorgestellt worden ist. Sie stellt «Ein neues Leistungseigentum» vor: Wir brauchen «eine Gestaltung des Eigentums, die es in Zukunft ausschliesst, dass wertvolle wirtschaftliche Strukturen und Arbeitsergebnisse Zehntausender Beschäftigter von Investoren geplündert und im schlimmsten Fall zerstört werden können. Es muss verhindert werden, dass ganze Unternehmen zum Spekulationsobjekt werden können und unter dem Einfluss dividendenhungriger Anteilseigner ihre ökonomische Aufgabe nicht mehr erfüllen.» (S. 292) Sie weiss zu berichten, dass die heutige Konstruktion des Aktienrechts «von Adam Smith bis Walter Eucken von allen echten Marktwirtschaftlern abgelehnt wurde». Sie will einen Rechtsrahmen, «der den inneren Widerspruch der Kapitalgesellschaft aufhebt und die Logik der Begrenzung von der Haftung für Verluste auch auf den Anspruch auf Gewinne überträgt.»

Dass Wagenknechts Ideen ganz in der Nähe des von anthroposophischer Seite lancierten «Verantwortungseigentums» liegen, belegt sie selber mit einem Hinweis auf die Stiftung Verantwortungseigentum. Damit geht sie klar über das etwas marktschreierische und inhaltsleere Juso-Postulat der Überwindung des Kapitalismus hinaus. Obwohl sie in der Regel keinen Zweifel daran lässt, dass der Staat in vielen Dingen eine stärkere Rolle spielen müsste, überschätzt sie dessen Omnipotenz nicht und ist bereit unternehmerischen Initiativen einen Handlungs- und Rechtsraum zu schaffen.

Zwei Details im Zusammenhang mit dem Leistungseigentum scheinen mir symptomatisch: Während Wagenknecht sehr viele ihrer Hinweise mit Quellenangaben belegt, fehlt eine solche beim Leistungs- bzw. Verantwortungseigentum. Hier ist sie: https://purpose-economy.org/de/whats-steward-ownership/. Und: Keine der vielen Rezensionen, die ich durchgesehen habe, geht auf Wagenknechts Idee des Leistungseigentums ein, der vielleicht einzigen wirklich originellen Idee im ganzen Buch. Denn die übrigen Feststellungen und Forderungen lassen sich alle auf dem konventionellen Links-Rechts-Schieberegler einstellen und der Streit beschränkt sich darauf, ob Wagenknecht nicht zu viel «rechts» in ihr «links» hineingemischt habe. Für die Strategen sozialdemokratischer Parteien könnte Wagenknechts Buch eine gute Grundlage für eine Grundsatzdiskussion sein. Für andere steckt mindestens die Botschaft im Buch, dass viele gesinnungsmässigen Gleichsetzungen nicht zwingend sind, wie beispielsweise antikapitalistisch = genderpolitisch = freizügige Einwanderungspolitik = ökologisch usw.