Die Verbindung zum Leben verloren
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- Erstellt: Donnerstag, 23. März 2023 16:08
Es geht um Geld. Wozu brauchen wir Geld? Geld ist zunächst und auch historisch als erstes der Begleiter von Warenflüssen. (Begleiter ist nicht ganz richtig, da Geld- und Warenfluss in entgegengesetzter Richtung laufen.)
Und es geht um Kapital. Wie entsteht es, wozu ist es notwendig? Zunächst wichtig war das Handelskapital, wie es die oberitalienischen Handelshäuser aufbauten. Es diente der Investition in Handelsunternehmungen, in Schiffe und Waren, die auch immer wieder einmal verloren gingen – und daneben einem prunkvollen Lebenswandel und der Kunst. Das Handelskapital nährte sich aus der Marge zwischen An- und Verkauf. Dann setzte die Industrialisierung ein. Nun wurde Kapital gebraucht, um Maschinen zu beschaffen, die auf ungeahnt produktive Weise Waren erzeugten. Die ersten Webstühle waren gleich viermal produktiver als Handweber. Man kann auch hier von der Kapitalbildung auf der Basis der Marge oder aufgrund unterbezahlter Arbeit sprechen. Das ist keine ausreichende Beschreibung. Es sind primär Erfinder- und Organisationsgeist, die Kapitalbildung ermöglichen. (Arbeit: selbst wenn die Arbeiterin für ihren Abnehmer täglich mehrere Stunden gratis gearbeitet hätte, wäre sie nie auf die Produktivität gekommen, die die Erfindung des mechanischen Webstuhls möglich machte.)
Einerseits ging die Industrialisierung mit einem Überschuss an Kapital einher, andererseits bedurfte sie der Kapitalzufuhr, um die produktiven Anlagen zu finanzieren. Es brauchte Leihkapital. Wie wir aus der vergangenen Vollgelddiskussion erinnern, haben Banken die Möglichkeit, Kredit «aus dem Nichts» zu schöpfen. Sie eröffnen dem Kunden eine Kreditlinie. Dieser bezieht davon zumindest einen Teil und investiert sie in eine Maschine. Was nun folgt, ist interessant: Die Maschine altert. In der Buchhaltung wird sie allmählich abgeschrieben. (Meist läuft sie noch, wenn sie ganz abgeschrieben ist. Dann bildet sie eine «stille Reserve».) Im Verlauf der Abschreibung zahlt die Unternehmung den Bankkredit zurück. Nun entsteht die für das kapitalistische Geldsystem charakteristische, aber absurde Situation, dass die Maschine, die mit dem Geld beschafft worden ist, mittlerweile ziemlich altersschwach dasteht, während das Geld, mit dem sie gekauft worden war, munter in die Bank zurückgekehrt ist, frisch wie zuvor und bereit zu neuen Taten.
Das kann man «Emanzipation» des Kapitals vom Leben nennen. Das färbt auf das ganze System ab, wie wir wissen beziehungsweise erfahren haben: Leben und Kapital sind zweierlei Dinge. Tragischerweise ist es so, dass der permanent entstehende Kapitalüberfluss das Leben stört oder gar zerstört. (Das überfliessende Kapital staut sich u.a. auch im Boden. Die Familie meiner Eltern zahlte zehn Prozent des Einkommens als Miete. Heute sind bei tieferen Einkommen über dreissig Prozent üblich. Das investierte Kapital will entschädigt sein beziehungsweise muss Rente zahlen – siehe unten.)
Ein kleines Stück weit wird der Kapitalüberfluss durch Steuern und durch Inflation gemildert. Die Steuern fliessen in Kriege, in Kunst oder Schmuck. Es wird in Boden angelegt oder in Rohstoffquellen, die nicht sogleich in neue Produktivität münden. Diese Kapitalvernichtung reicht aber bei weitem nicht aus, die Stauphänomene zu beseitigen. Die Vermögensverwaltung ist der blühendste Zweig des Bankgeschäfts.
An dieser Stelle ist verankert, was wir Kapitalismus nennen. Dieser Begriff wird zwar sehr häufig und vor allem kritisch verwendet. Der Begriff bleibt eigentlich immer diffus, nicht zuletzt auch bei jenen, welche ihn überwinden wollen. (Klar, wenn man nicht so genau sagen kann, was man überwinden will, wird man das auch nicht überwinden.) Kapitalismus ist das System, das es erlaubt, mit Geld Geld zu verdienen, genauer: das System, das erlaubt, eine möglichst nie endende Rente zu generieren. Zentrales Merkmal der Rente ist die Leistungslosigkeit.
Nichterwerbsfähige Menschen in unserer Gesellschaft (alte Menschen, Kinder, Menschen mit Behinderung) erhalten aufgrund von Gesetzen eine Rente. Dies entspricht dem sozialen Willen der Gesellschaft. Die kapitalistische Rente konstruiert man sich selber, wenn man das letztlich aus der Produktivität stammende und sich ansammelnde Geld nicht zum allmählichen Verzehr, sondern zur Generierung eines leistungslosen Einkommens anlegt. Einst besuchte ich einen alten Friedhof in Deutschland. Da stand auf vielen Gräbern als Berufs- oder Standesbezeichnung «Rentier». Rentiers leben vom Ertrag ihres Vermögens, nicht von einem Ruhegehalt.
Eine moderne Form von Rente basiert auf dem Plattformkapitalismus. Hier wird besonders deutlich, was ich oben beschrieb, dass «Erfinder- und Organisationsgeist, die Kapitalbildung ermöglichen»: Jemand entwickelt ein elektronisches Tool, das mir gewisse Abläufe des Lebens erleichtern, was ich mir ein paar Franken pro Monat kosten lasse – und schon fliesst das Geld, die Rente, ohne dass der Urheber noch viel zu leisten hätte.
Mit der Kapitalbildung ist eine Art «Emanzipation vom Leben» verbunden. Banken sind, mindestens zum Teil, vom Leben emanzipierte Institutionen. Zu einem Teil erbringen sie für das Leben wichtige Dienstleistungen im Zahlungsverkehr und in der Finanzierung realer Vorhaben. «Emanzipation» findet da statt, wo sie mit Vermögen umgehen, bei denen Eigentümer und Objekt des Eigentums keine Beziehung zueinander mehr haben. Solche Eigentumstitel ohne inneren Bezug (v.a. Aktien) werden wie beliebige Waren getauscht. Geld wird in solche Titel zur mittelfristigen Gewinnmaximierung angelegt. Daran ändern auch sogenannte ESG-Kriterien (Ecological, Social, Governance) nicht viel. Diese dienen eher der Beruhigung.
Wenn die Verbindung zum Leben einmal durchgetrennt ist, dann ist es naheliegend, dass Masslosigkeit durchbricht. Im Laufe der letzten Jahrzehnte gab es mehrere sehr grosse Beispiele für diese Entwicklung. Nach jedem Ereignis entwickelte der Staat neue Gesetze und Richtlinien, mit denen solche Entwicklungen verhindert werden sollten.
Das ursprüngliche Problem wird dadurch nicht behoben: das «Wuchern» des Geldes. Solange alle Produktionsmittel, die mit Geld finanziert werden, altern und allenfalls zerfallen, das Geld aber munter weiterlebt und sich vermehrt, werden sich Menschen dieser Kapitalmassen hilfsbereit annehmen und Dinge damit treiben, die ihnen gefallen und etwas bringen.
Schwer erklärbar ist, weshalb die Behörden, die das Wohlverhalten der Finanzinstitutionen zu überwachen haben, jahrelang keinen Finger gerührt haben. So berichtet beispielsweise Infosperber seit sieben Jahren über die kriminellen Finanzierungspraktiken der CS in Mosambik. Für den Thurgauer schiebt sich das eine Bild über das andere: Jahrelanges Nichtstun im Tierquälereifall Hefenhofen, dann ein derart dilettantisches Intervenieren, dass der Beschuldigte weitgehend freigesprochen werden musste. Im Fall CS ebenso jahrelanges Nichtstun. Nun eine überstürzte Intervention. Ob man auch diese als dilettantisch wird bezeichnen müssen, wird sich erst zeigen.