Tierische, digitale oder menschliche Kommunikation?
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- Erstellt: Sonntag, 02. Mai 2021 19:58
Dass Kommentatoren auf (verbale) Signale reagieren, ohne sich um Intentionen und Kontexte zu kümmern, passiert fast täglich. Selten ist eine so prominente und «unverdächtige» Persönlichkeit Signalgeber, wie dies in der Fernseh-«Sternstunde» am Sonntag, 25. April der Fall war. Die NZZ (28.4.21) fasste folgendermassen zusammen:
«Adolf Muschg spricht offen und luzid, er redet von seiner Kindheit, von Versäumnissen und Erfolgen. Gegen Ende des Gesprächs kommt man auf die Cancel-Culture zu sprechen. Muschg sagt: «Nehmen Sie die Cancel-Culture, die wir heute haben. Dass man abgeschrieben wird, wenn man bestimmte Zeichen von sich gibt. Das sehen wir bei feministischen Diskursen ebenso wie bei antirassistischen. Ein falsches Wort, und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz.»
Und schon war Muschg abgestempelt. Nochmals die NZZ: «Und kaum klingt die Sendung aus, schiessen auf Twitter bereits die ersten Reaktionen ins Kraut. Muschg solle sich ‹in Grund und Boden schämen›, schreibt etwa der Schweizer Historiker Philipp Sarasin.»
Ich will hier nicht wiederholen, was Tausende von Malen wiederholt worden ist, dass Vergleiche mit der Shoa deshalb problematisch sind, weil sie zu einer Banalisierung der Verbrechen des Nationalsozialismus beitragen, was Neonazi-Tendenzen fördern kann und so weiter. Ohne Zweifel sieht auch Muschg das nicht anders. Gerade deshalb, weil man Muschg in der Öffentlichkeit relativ gut kennt, müsste man eher fragen: was hat diesen Mann getrieben, diesen drastischen Vergleich zu ziehen? Welche Erlebnisse, welche Not stecken dahinter?
Doch nachdem Muschg im bedenkenswerten Kontext seiner Ausführungen ein Signal versteckt hatte (das Wort «Auschwitz»), wird (fast) nur noch über dieses Signal und die Unzulässigkeit von dessen Verwendung debattiert. Der Kontext beziehungsweise die Intention von Muschg bleiben ausgeblendet. Das ist leider typisch für diese Art von Reaktion, die nach einem Algorithmus abzulaufen scheint: Trifft der Scanner auf ein Wort der Negativliste, ist möglichst öffentlich zur Schau getragene Entrüstung programmiert.
Wäre zu fragen, was die Entrüsteten antreibt. Es handelt sich um hoch sensibilisierte Menschen, die angetreten sind, um sich gegen soziale Ungerechtigkeiten und Rassismus und für den Schutz von Minderheiten einzusetzen – Menschen, die man als «woke» bezeichnet. Die Sensibilisierung richtet sich primär auf Sprache. Es gibt heute viele Wörter und Gendervarianten, die gewissermassen auf dem Index stehen. Wenn nun jemand ein Wort verwendet, das auf ihrem Index steht, schlagen sie zu. Als Präsident Biden sein Kabinett zusammenstellte, berief er als erster Präsident der USA eine Frau, eine Indianerin, wie die NZZ und andere Zeitungen schrieben. In den sozialen Medien wurde umgehend angeprangert, dass die NZZ das I-Wort verwendet habe. Sie hätte vermutlich schreiben müssen, dass eine Idigene berufen worden sei.
Einverstanden, im zwischenmenschlichen Verkehr geht es darum, dem anderen Menschen Respekt entgegen zu bringen. Das wird schon dem kleinen Kind beigebracht, das zunächst fremde erwachsene Menschen mit «Du» anspricht. Man bringt ihm bei, dass es korrekt ist, «Sie» zu sagen (jedenfalls dürfte das bei mir vor bald 75 Jahren noch der Fall gewesen sein). Hat das damals mein Verhältnis zu diesen Menschen verändert? Wohl kaum. Ich habe mir eine Konvention der Erwachsenen angeeignet. Ich habe gelernt, das falsche Signal «Du» zu vermeiden, das für Respektlosigkeit steht (was ich nicht wusste, ich fügte mich halt) und stattdessen das korrekte Signal «Sie» zu verwenden. Ich bin sicher nicht der Einzige mit der Erfahrung, dass es damals ein ganzes Vokabular von Wörtern gab, die man nur unter Kindern gebrauchte und in Gegenwart von Erwachsenen mied, weil man wusste, dass diese Wörter nicht korrekt sind. (Also auch damals gab es einen Index.) Es dürfte auch in Zeiten von «political correctness» so sein, dass viele Menschen über zwei Vokabulare verfügen. Wenn jemand erfolgreich inkorrekte Ausdrücke meidet, heisst das noch längst nicht, dass er (oder sie) anderen Menschen respektvoll und menschlich begegnet.
Eine sensiblere Handhabung der Sprache mag man in vielen Fällen nachvollziehen und in der eigenen Sprechweise berücksichtigen – mindestens so lange die Sprechweise vom eigenen, individuellen Bewusstsein getragen ist. Vom Bewusstsein getragen muss auch das Verstehen des Anderen sein: Was will er sagen? Was versucht er auszudrücken? Wie ist er im Zusammenhang des ganzen Gesprächs zu verstehen?
Das Reagieren auf einzelne Wörter führt vom Verstehen weg zu einem maschinell-unmenschlich anmutenden, man könnte auch sagen pawlowschen Kommunikationsmuster. Es wirkt geradezu tragisch, dass die Verfechter korrekten Sprechens, das für eine menschlichere Kultur stehen soll, tierisch bis maschinell reagieren. Mit tierisch meine ich die pawlowsche Reaktionsweise, die auf ein Signal, vom gesamten Kontext abstrahierend, reagiert. Mit maschinell meine ich das digitale Muster, das nur ja/nein, schwarz/weiss zu unterscheiden vermag. Jeder Text, auch der Gesprochene, wird gescant, oft bevor überhaupt ein Bemühen um Verständnis stattgefunden hat. Wenn der Scan ein Wort ausmacht, das auf dem Index steht, läuft ein Algorithmus ab, der zur Verteufelung des Senders des fatalen Signals führt. Wo bleibt da die menschliche Kommunikation? Ein alter, weisser Mann (wie Muschg) kann jedenfalls nicht auf einen Verständnis-Bonus hoffen, er soll sich, wie der Historiker Philipp Sarasin meint, in Grund und Boden schämen.
Woher kommt diese Kommunikationskultur oder -unkultur? Klar, aus den USA. Aber welches sind die Hintergründe?
Mit dem Hinweis auf das digitale Muster habe ich bereits einen Hinweis gemacht. Es ist spätestens seit Linné bekannt. Mit Monokotyledonen und Dikotyledonen hat die Pflanzenbestimmung jeweils angefangen. Das Ganze, die Gestalt der Pflanze, wie sie u.a. Goethe zu sehen sich bemühte, hat keine Rolle gespielt. Diesem eher philosophischen Hintergrund wäre weiter nachzugehen.
Es gibt noch eine weitere Spur: Erstmals begegnet bin ich dem richtig/falsch-Schema beim Erwerb des Führerausweises. Ich meine die Multiple Choice-Fragebogen in der theoretischen Fahrprüfung. Später arbeitete ich an der Uni selber an der Zusammenstellung von Prüfungsfragen nach dem Multiple Choice-Schema. Bei diesen Fragen gibt es nur richtig oder falsch. Das hat für die Prüfenden grosse Vorteile: die Korrektur geht schnell und kann von unqualifizierten Hilfskräften erledigt werden. Durch die eindeutige Quantifizierbarkeit der Resultate ist das Ergebnis bestanden/durchgefallen objektiv gegeben. Diskussionen (= menschliche Kommunikation) können vermieden werden. Das alles ist heute vermutlich noch viel wichtiger geworden. Eltern üben Druck auf die Lehrer (Lehrpersonen) aus, Prüfungsbewertungen müssen möglichst von der Lehrperson und ihren allfälligen Sympathien oder Antipathien abgelöst werden, sonst ist Chancengleichheit nicht gewährleistet usw. Das digitale Muster, das Richtig/falsch-Schema ist über jeden Verdacht erhaben.
Selbstverständlich ist es eine Hypothese zu behaupten, dass die Digitalprozesse, die im Hintergrund wirken – zum Beispiel, wenn ich auf dem Computer diesen Text schreibe – auf das Kommunikationsverhalten in der Gesellschaft durchschlagen. Es wäre im Detail nachzuweisen, wie die Umwandlung von der technischen zur Kommunikationsebene vor sich geht. Welchen Einfluss die Gewöhnung an Multiple Choice-Schemata und welchen Einfluss die Arbeitsblätter der Kinder, mit welchen sie von den Lehrpersonen losgeschickt werden, auf das Denken und Verhalten haben. (Nicht von den Inhalten der Arbeitblätter ist hier die Rede, sondern von der «Hidden Agenda».)
Die Folge des Algorithmus, der nur schwarz und weiss, nur ja und nein, Licht und Finsternis unterscheiden kann, ist ein Verlust der Grautöne, ein Verlust der Mitte und damit ein Verlassen der christlichen Tradition der Dreiheit. Das alles mündet in einen Verlust des Verstehens. Ein Scan weniger Merkmale reicht für die Urteilsbildung.
Es gäbe eigentlich die Methode namens Hermeneutik, die nie nur ein Wort aufspiesst, sondern dieses immer im Kontext zu verstehen versucht. Es wäre wohl notwendig, auf allen Schul- oder Entwicklungsstufen Fragestellungen zu entwickeln, die nur jeweils aus dem Verstehen des Ganzen beantwortet werden können. Also statt Linnés digitalen Bestimmungsschlüssel Goethes anschauendes Urteilen mit dem Blick auf das Ganze. So könnten wir es schaffen, wieder ein wenig Hermeneutik in die Alltagsdiskussion zu bringen. Sollte es immer öfter passieren, dass das Geifern beginnt, wenn ein (falsch klingendes) Signal ertönt, ist die Menschheit tatsächlich auf den Hund gekommen.