Normierung und Individualisierung: Beispiel Baureglement

Etwas mühsam kurvt der Postbus um das Hotel Staila im bündnerischen Bergdorf Fuldera. Stünde das Hotel nicht an diesem Platz, könnte der Bus geradeaus fahren. Damit Häuser nicht öfter sozusagen mitten in der Strasse und damit dem Verkehr im Weg stehen, wurden in Preussen Mitte des 19. Jahrhunderts die «Fluchtlinien» erfunden. Sie gehörten zu den ersten modernen bauplanerischen Massnahmen in Mitteleuropa. Verschiedene dieser Massnahmen hatten zunächst «technische» Bedeutung. Bebauungen mussten die Bedürfnisse des Verkehrs, der Brandbekämpfung, der Gesundheit usw. berücksichtigen. Allmählich kamen auch gestalterische (ästhetische) Aspekte hinzu. Gemeinden versuchen die Qualität von Orts- und Städtebildern dadurch zu gewährleisten, dass sie Baureglemente erlassen. Diese sehen zum Beispiel Gebäude-Abstände von Strassen und Nachbargebäuden vor, aber auch Dachformen (beispielsweise keine Flachdächer!) und anderes mehr. Doch jedermann kann sich davon überzeugen, dass diese Massnahme der Siedlungsqualität kaum hilft, eher ihre Monotonie fördert.

Im Baubewilligungsprozess überschneiden sich rechtliche (Normen-) und ästhetische (Kreativ-) Aspekte. Das Formulieren und Kontrollieren von Normen ist Bestandteil bürokratischer Prozesse, die zu den Stärken staatlicher Institutionen gehören. Ein Hauptgesichtspunkt dabei ist Rechtsgleichheit bzw. das Vemeiden von Präzedenzfällen. Das treibt die immer detailliertere Formulierung von Normen voran.
Der Katalog an Bauvorschriften ist mittlerweile so weit standardisiert, dass es naheliegend erscheint, den Prozess der Baubewilligung weitgehend zu digitalisieren. In einem nicht-technischen Sinn ist er bereits digitalisiert. Denn der Bauherr oder sein Architekt haken Punkt für Punkt ab und beantworten sie mit «erfüllt» oder «nicht erfüllt».

Gemeinden ohne Baureglement!

20160913 DSCF0462Diesem digitalen Prozess steht ein anderes Prozess-Modell gegenüber: In Vorarlberg gibt es Gemeinden ohne Baureglement, ausgestattet dafür mit Architekturbeiräten, die Gemeinderäte oder Bauvorstände begleiten. Diese prüfen jedes eingehende Baugesuch intensiv, schlagen im Gespräch mit dem Bauherrn allenfalls Änderungen vor und kommen zu gemeinsam getragenen Lösungen. Die Rekursrate liegt dabei eher tiefer als im normierten Verfahren. Lösungen werden möglich, die aufgrund eines standardisierenden Systems von Normen schon sehr früh einer Normen-Guillotine zum Opfer gefallen wären. Hier stehen sich also zwei Konzepte gegenüber: System und Prozess – wobei der Prozess ganz auf fachliche, menschliche und sozialen Qualitäten baut. Selbstverständlich kann ein «digitales» Prüfverfahren anhand von Baureglements-Normen sehr viel speditiver und mit der geringeren Fachkompetenz eines gut eingeführten Beamten abgewickelt werden – Einspracheverfahren folgen danach – in der Prozess-Variante mit Architekturbeiräten können sie weitgehend schon in den Prozess einbezogen werden.

Die digitalisierte Variante aufgrund eines Normenkatalogs wird zu einem rein technischen Prozess. Die Prozessvariante mit Beirat-Begleitung ist ein sozialer und kreativer Prozess, der zu besseren Ergebnissen (auch im Sinnes des Bauherrn) führen kann, als dies in der ursprünglichen Baueingabe angelegt war.

Dass die Prozessvariante in kleineren Gemeinden praktiziert wird und nicht in Städten, ist verständlich. Normen reduzieren Komplexität und helfen, wie oben erwähnt, Präzedenzfälle zu vermeiden. Individuallösungen mögen in kleineren sozialen Zusammenhängen (Gemeinden) kommunizierbar sein. In grösseren Gemeinden (Städten) wird sich immer jemand finden, der die Individuallösung zum Präzedenzfall machen und für sich beanspruchen will. Trotzdem müsste öfter geprüft werden, wo Normierung wirklich unausweichlich und wo Individualisierung bzw. das soziale Aushandeln möglich wäre.